Joch der Vortrefflichkeit

Bei den Hallen-Weltmeisterschaften der Leichtathletik starten mit Sophie Krauel und Nils Winter zwei Leute im deutschen Team, die nicht unbedingt den Dogmen ihres Verbands entsprechen wollen

AUS BUDAPEST JOACHIM MÖLTER

In dieser Woche ist Sophie Krauel 19 Jahre alt geworden, und wie viele Athletinnen ihres Alters träumt sie noch von den schönen Dingen des Sports: Olympiamedaillen, Ruhm, Geld und – wie sie hinzufügt – „natürlich auch Spaß“. Der wird der Juniorin wohl bald vergehen, wenn sie richtig bei den Erwachsenen angekommen ist. Schon bevor die Hallen-Weltmeisterschaften der Leichtathleten am Freitag in Budapest begonnen hatten, stellte die Weitspringerin vom TuS Jena fest: „Hier ist alles durchorganisierter, ernster, strenger.“ Noch genießt sie den Rummel bei ihrem ersten wichtigen Wettkampf bei den Frauen: „Es ist schon was Tolles, wenn man die ganzen Stars sieht.“ Aber sie ahnt, dass der Ernst des Sports bevorsteht.

Im Mai macht sie ihr Abitur am Sportgymnasium in Jena, danach muss sie entscheiden, ob sie sich auf das anvisierte Jurastudium konzentriert oder den Sport. „Ich mache seit zwölf Jahren Leistungssport, ich bin jetzt erfolgreich“, sagt die zweifache Junioren-Europameisterin, „das möchte ich nicht einfach so hinwerfen.“ Andererseits: „Ich will auch nicht mit 25 dastehen ohne Berufsausbildung.“ Die Weitspringerin Sophie Krauel nähert sich also mit zunehmender Geschwindigkeit der Schwelle, wo der deutschen Leichtathletik die meisten Talente abspringen. „Mit 20 muss sich der Athlet entscheiden“, sagt Rüdiger Nickel, der Leistungssportchef des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV): „Opfere ich zehn Jahre für eine zehnprozentige Chance, ganz nach vorne zu kommen?“ Sophie Krauel ist das Dilemma bewusst, wählen zu müssen zwischen beruflicher und sportlicher Karriere; sie spürt so etwas wie „Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit“, wie das Buch von Renate Feyl heißt, das sie zur Abiturvorbereitung mit nach Budapest genommen hat: „Manche Studiengänge lassen sich halt nicht mit dem Leistungssport vereinbaren.“

Das DLV-Dogma, wonach man sich mit spätestens 20 entscheiden muss, wenn man es in die internationale Spitze schaffen will, wird freilich immer häufiger in Frage gestellt. Prominentestes Beispiel ist der 400-Meter-Europameister Ingo Schultz, der mit 22 überhaupt erst zur Leichtathletik kam. Auch Sophie Krauels Weitsprungkollege Nils Winter ist ein Spätstarter. „Ich bin zwar schon 26“, sagt er, „aber an internationaler Erfahrung noch sehr jung.“ Die Hallen-WM ist sein zweiter großer Wettkampf nach den Weltmeisterschaften 2003 in Paris, nur knapp, um einen Zentimeter, verpasste er gestern die Qualifikation für das Finale im Weitsprung. Winter schloss erst einmal sein Studium als Wirtschaftsingenieur ab, bevor er seine Zeit für den Leistungssport opferte. Im November 2002 wechselte der Hamburger nach Leverkusen zum Trainer Bernd Knut. Jetzt bezeichnet sich Winter als Profi.

„Wenn man die Nerven hat und so lange warten kann, ist’s auch okay“, sagt Nickel über den Ansatz, erst die Ausbildung zu absolvieren und dann den Spitzensport anzugehen. Trotzdem sieht er das Problem nicht grundsätzlich umgangen durch Winters Weg. „Es kann ja auch sein, dass er in fünf Jahren merkt, dass er seine Ausbildung in den Sand gesetzt hat.“ Es kann aber auch sein, dass Nils Winter weiter getragen wird als die Kollegen, die gar keine berufliche Zukunft vor Augen haben – schließlich hat er eine solide Ausbildung im Rücken.

Und das auch in sportlicher Hinsicht. Bevor er sich auf den Weitsprung konzentrierte, war Nils Winter ein Mehrkämpfer, schon als Jugendlicher. „Ich habe auch später immer noch einen Zehnkampf mitgemacht im Jahr“, sagt er. „Ich habe drei, vier Wochen drangehängt und bin bei den deutschen Mehrkampfmeisterschaften gestartet.“ Mit einigem Erfolg sogar: 2001 und 2002 war er jeweils Siebter.

Auch Sophie Krauel hat eine Vergangenheit als Mehrkämpferin und bricht mit einem weiterem DLV-Dogma: dem einer frühen Spezialisierung. „Das ist ein Ausgleich und auch gut für den Körper“, sagt sie über ihre Siebenkämpfe. Immer nur weit zu springen ist ihr zu langweilig, schließlich ist sie auch Junioren-Europameisterin im Hürdensprint, und „ganz will ich den nicht aufgeben.“ Aber etwas wird sie zurückstellen müssen. Immerhin ist Sophie Krauel zielstrebig, sie hat sich einen Abiturschnitt von 1,3 vorgenommen, und sie macht den Eindruck, als fände sie schon einen Weg an die Spitze. Es muss ja nicht der sein, den der DLV vorgibt.