CHINAS PREMIER WILL DEN CHINESISCHEN KAPITALISMUS ZÄHMEN
: Auf dem Weg nach Westen

Gibt es das: Kommunisten, die eines der spektakulärsten Wirtschaftswunder der Menschheitsgeschichte verwalten? Pekings neuer Premier Wen Jiabao ist der Antwort gestern ein Stück näher gekommen. Er hat, ganz Marxist, die hässlichen Seiten des chinesischen Kapitalismus angesprochen.

Dabei stand Wen nie auf Seiten der KP-Dogmatiker. Während der Stundenrevolte 1989 ging er an der Seite des damaligen Premiers Zhao Ziyang auf den Tiananmenplatz, um die Demonstranten zu warnen. Nun ist er als neuer Premier derjenige, der sein Land vor den „neuen Widersprüchen der beschleunigten Wirtschaftsentwicklung“ warnt, von der puren Wachstumseuphorie seiner Vorgänger abrückt – und damit den Kommunisten in China eine zweite Chance verschafft. Es ist ein waghalsiges Projekt. Denn Wen versteckt sich nicht in der Rolle des starken Mannes, den das Volk anzuerkennen gewohnt ist. Stattdessen will er Bewusstsein für die Probleme schaffen und Lösungen angehen: den Sozialstaat aufbauen, Wachstum umverteilen, den Bauern großzügige Steuererlasse genehmigen. Das macht aus ihm noch keinen Kommunisten, aber doch einen, der die marxistische Kernlehre beherzigt: dass der Kapitalismus Elend gebiert.

Für China ergibt sich daraus eine kolossale Chance. Denn auch wenn der Kapitalismus im Landes mittlerweile so stark ist, dass keine Regierung seine Dynamik mehr zu stoppen vermag: eine aufgeklärte KP-Spitze kann zumindest dafür sorgen, dass viele hundert Millionen Chinesen von der Entwicklung profitieren – nicht nur einige wenige. Insofern sollte man dem neuen Premierminister Chinas auch keine Heuchelei unterstellen, wenn jetzt auf sein Betreiben die Menschenrechte in der Verfassung des kommunistisch beherrschten Landes Aufnahme finden. Das Verständnis der Menschenrechte war auch im Westen ein anderes, als die Hälfte der Bevölkerung noch zur Bauernschaft zählte. Erst die Emanzipation von Scholle und Großfamilie und die Lohnabhängigkeit führten zum heutigen, individuellen Rechtsverständnis. Wenn Wen mit seinem Projekt Erfolg hat, wird das bald auch in China so sein. GEORG BLUME