„Wir sind keine Jasager mehr“

Chinas Volkskongress, der in Peking seine jährliche Plenartagung beginnt, scheint sich vom Abnicker-Scheinparlament zum Forum für die Verlierer des Kapitalismus zu wandeln. Premierminister Wen Jiabao ermuntert indirekt sogar dazu

Wirtschaftswachstum war die Parole der letzten Jahre, jetzt fällt der Blick auf die Bauern

AUS PEKING GEORG BLUME

Anfäng März tagt in Peking immer der Volkskongress. Die wichtigste politische Zeremonie der Kommunisten jenseits der Parteitage soll Demokratie vortäuschen. Dafür kommen jedes Mal 3.000 Abgeordnete aus dem ganzen Land in die Hauptstadt. Seit über 50 Jahren geht das so. Doch dieser Tage entwickelt der Kongress ein Eigenleben.

Früher zählten die Pekinger Auslandskorrespondenten zu den wenigen geladenen Journalisten. Bedächtig konnte man die Treppen zur Großen Halle des Volkes am Tiananmenplatz emporschreiten, gefolgt nur von Blicken der Sicherheitsbeamten. Doch gestern herrscht auf den Eingangstreppen ein Gedränge wie vor jedem chinesischen Bahnhof. Denn heute begleiten tausende chinesischer Sonderkorrespondenten den Kongress.

In großen Pulks stürzen sie sich auf die eintreffenden Abgeordneten, die sich bereitwillig den Kameras stellen. Wie war es noch vor wenigen Jahren schwer, Kongressmitgliedern auch nur einen Satz zu entlocken! Doch wie heißt es so schön später in der Rede von Premierminister Wen Jiabao: „Die Regierungen aller Ebenen müssen sich der Kontrolle der Presse unterziehen.“

Wenn das auch im Prinzip nicht stimmt und sich Chinas Medien weiter der Zensur der Partei beugen müssen, so ist es doch ein bisschen wahr. Chinas längst bunte Medien sind gerade 2003 – nach dem Skandal um die Sars-Lüge – aufgewacht und frecher geworden. Jetzt hat es gar den Anschein, als habe der Premier das so gewollt.

Wie überhaupt Wen bei seiner ersten großen Ansprache als Regierungschef alles versucht, um die zu Beginn seiner Amtszeit vor einem Jahr grassierende Sars-Epidemie als rückblickend entscheidenden politischen Einschnitt zu präsentieren. Der Ausbruch der lebensgefährlichen Lungenkrankheit habe „das Missverhältnis zwischen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung enthüllt“, sagt Wen. Konkret: China muss „wieder“, denn unter Mao gab es das mal, „ein landesweites System für öffentliche Gesundheit aufbauen“. Damit spricht Wen von den negativen Folgen des Kapitalismus für China.

Das ist neu. Noch im vergangenen Jahr sang Wens Vorgänger Zhu Rongji an gleicher Stelle ein einziges Loblied auf das Wirtschaftswachstum. Er zählte auf, wie viel Autobahnen in seiner Amtszeit gebaut, wie viel Generatoren installiert und wie viel Handy-Benutzer geworben wurden. Was aber zählt Wen auf? „Die seit Jahren angehäuften tief sitzenden Widersprüche“, von denen er etliche nennt: „Das Einkommensgefälle in der Gesellschaft ist zu groß, Beschäftigung und Sozialabsicherung gestalten sich schwierig, die Entwicklung ist regional ungleichmäßig, die Belastung der Umwelt vergrößert sich.“ Kein Wunder also, wenn es „bei den Massen Unzufriedenheit gebe“.

In Wens Rede spiegelt sich die neue Rolle des Volkskongresses. Das Jubel- und Abnickerparlament, das der Führung als Propagandabühne diente, wandelt es sich zum wichtigsten Forum für die Verlierer des Kapitalismus, allen voran die 900 Millionen Landbewohner. „Den Bauern geht es heute nicht besser, sondern schlechter“, schimpft Parteisekretärin Liu Zhihua aus dem Dorf Jinghua in der 90-Millionen-Provinz Henan. Mutig pflückt Liu die Rede des Premiers auseinander. Der hatte gerade gesagt: „Das Einkommen der Bauern erhöht sich langsam.“ Doch die Delegierte weiß anhand offizieller Zahlen: „Das Pro-Kopf-Einkommen der Bauern ist im letzten Jahr um 47 Yuan gesunken. Das ist ein sehr großer Verlust.“ Deshalb sei der von Wen versprochene Steuernachlass für die Bauern so wichtig. Früher wäre Liu mit solcher Kritik aus dem Kongress geflogen.

Doch auch das Selbstbewusstsein der Abgeordneten hat sich verändert. Keiner verkörpert die Emanzipation von der Parteiführung besser als der Biogenetiker Chen Zhangliang, der, obgleich parteilos, mit 41 Jahren zweitjüngstes Mitglied im Führungsausschuss des Kongresses wurde. Chen studierte in den USA, ist ein leidenschaftlicher Wissenschaftler und steht für nichts, von dem er nicht überzeugt wäre.

Im Führungsausschuss muss Chen jedes neue Gesetz begutachten. „Wir sind kein Jasager-Parlament mehr“, erklärt er. „Das neue Verkehrsgesetz haben wir völlig umgearbeitet.“ Auch dabei ging es um die Bauern, deren Traktoren die Regierung von den Straßen verbannen wollte. Der Ausschuss setzte einen Kompromiss durch: Ohne Anhänger dürfen Chinas Trecker weiter über Landstraßen tuckern. Macht der Kongress so weiter, könnte er bald mehr tun, als Demokratie nur vorzutäuschen.

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