Unter Pleitegeiern

Insolvenzen und Arbeitslosigkeit auf Rekordstand: Hiobsbotschaften geben Reformstreit neue Nahrung. SPD-Linke und DGB legen Gegenentwürfe zu Kanzler Schröders Agenda 2010 vor

BERLIN taz ■ Über Deutschland kreist der Pleitegeier. Zum ersten Mal überhaupt erwartet der Verband Deutscher Inkasso-Unternehmen in diesem Jahr eine Gesamtzahl von mehr als 100.000 Insolvenzen, darunter rund 40.000 bankrotte Unternehmen und 60.000 zahlungsunfähige Einzelpersonen. „Gründe für den neuerlichen Pleiterekord sind neben der schwachen Konjunktur vor allem die schlechte Zahlungsmoral und die hohe Privatverschuldung“, sagte Verbandschef Dieter Plambeck.

Einen neuen Spitzenwert erreicht auch die Arbeitslosigkeit. Im April waren 4,495 Millionen Menschen ohne Job, das ist der höchste April-Stand seit der Wiedervereinigung. Die Quote liegt damit bei 10,8 Prozent. In Westdeutschland sind 8,6 Prozent der Erwerbsfähigen ohne Arbeit, im Osten 19,1 Prozent. Im Jahresdurchschnitt erwartet der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, 4,4 Millionen Arbeitslose. Damit verfehlt Gerster sein Ziel, in diesem Jahr ohne Bundeszuschüsse auszukommen, bei weitem.

Entsprechend rückläufig ist die Zahl der Erwerbstätigen. Wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte, gingen in diesem Februar noch 37,9 Millionen Menschen einer bezahlten Beschäftigung nach, fast eine halbe Million weniger als ein Jahr zuvor.

Die Hiobsbotschaften der Statistiker gaben dem Streit um Wirtschafts- und Sozialreformen neue Nahrung. Die SPD-Linke hat ihre Hauptforderungen jetzt in einem Parteitagsantrag festgezurrt, der gestern bekannt wurde. Sie will, dass die Regierung das Krankengeld in der gesetzlichen Kasse belässt und auf die geplante Senkung des Spitzensteuersatzes verzichtet. Damit, dass das Arbeitslosengeld generell nur noch für zwölf Monate gezahlt wird, kann sich die Linke dagegen anfreunden – vorausgesetzt, jeder Arbeitslose erhält ein zumutbares Jobangebot.

DGB-Chef Michael Sommer ließ dem Kanzler seinen Gegenentwurf zu dessen Agenda 2010 per Zeitungsartikel zukommen, nachdem die Gewerkschaften am Vortag ein direktes Gespräch mit der SPD abgesagt hatten. In einem Beitrag für das Wochenblatt Zeit fordert Sommer ein Vorziehen der Steuerreform sowie höhere Steuern auf Erbschaften und Börsenumsätze.

Erwogen wird beim DGB auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Mit dem Geld könnten Sozialleistungen finanziert und damit Beiträge gesenkt werden. Für diesen Vorschlag konnten sich gestern auch SPD-Abgeordnete vom rechten Parteiflügel erwärmen. Regierungssprecher Béla Anda wies das Ansinnen allerdings zurück.

Dagegen mehren sich die Anzeichen, dass die heutige Koalitionsrunde von SPD und Grünen eine Erhöhung der Tabaksteuer beschließt. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) bezeichnete einen solchen Schritt als „wünschenswert“, auch Anda schloss ihn nicht mehr grundsätzlich aus. RALPH BOLLMANN

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