„Es ist zu einer Klassenfrage geworden“

HipHop nach der Eroberung des Mainstreams: Der amerikanische B-Boy-Intellektuelle Nelson George über den globalen Siegeszug der Rap-Kultur, fortwirkende Rassenschranken in Hollywood, die kommende Generation der HipHop-Politiker sowie einen neuen Trend namens, äh, Screw Music

Interview UH-YOUNG KIM

taz: Herr George, Sie sind ein Allround-Intellektueller: Sie sind Musikjournalist, schreiben Sachbücher und Romane, haben Comedy-Shows produziert und Filme gedreht. Was macht Ihnen am meisten Spaß?

Nelson George: Ich schreibe am liebsten Romane. Meine Essays und Sachbücher bilden aber den Kontext, in dem ich eine Geschichte erzähle.

Hierzulande sind Sie vor allem durch Ihre Black-Culture-Studien bekannt, in denen Sie einen kritischen Blick auf die Rolle der Afroamerikaner in der Musik-, Film- und Sportindustrie der USA werfen. In welcher dieser Branchen sind die Hürden für Schwarze denn am höchsten?

Beim Film – weil dort so viel Geld im Spiel ist. Im Plattengeschäft haben Schwarze viel mehr erreicht. Wenn Puff Daddy dich mag, kannst du von seinem Büro aus direkt auf MTV landen. Dazu findet sich in Hollywood einfach keine Entsprechung.

Im Sport gibt es zwar keine Schwarzen, die Teams besitzen, aber einige Sportler, die sehr viel Geld verdienen. Doch beim Film sind die Machtstrukturen am widerstandsfähigsten gegenüber Schwarzen, die aufsteigen wollen. Du kannst als Star oder Regisseur zwar einen gewissen Status erreichen, so wie Will Smith oder Spike Lee. Was aber fehlt, sind schwarze Produzenten, die kontinuierlich Filme herausbringen. Hollywood ist auch deswegen so schwer zu durchdringen, weil es um Wahrnehmung geht: Erst im letzten Jahrzehnt haben sie begriffen, dass Stars nicht immer weiß sein müssen.

Worum ging es Ihnen in Ihren Büchern zur Popmusik, in „The Death Of R ’n’ B“ und „HipHop America“?

„The Death of R ’n’ B“ blickt darauf, wie sich R ’n’ B – und später Soul – als schwarzes Produkt in dem Moment zu verändern begann, als große Plattenfirmen in das Geschäft einstiegen. Es handelt davon, wie das langsame Schwinden rassistischer Schranken neue Chancen mit sich brachte – aber auch andere Konsequenzen nach sich zog, mit denen niemand gerechnet hatte. Es geht um die Frage, was man mit der Integration gewinnt oder verliert.

Ich wollte nicht bloß eine Musikgeschichte der USA schreiben, sondern eine institutionelle Geschichte, welche die Dialektik und ihre Mechanismen zeigt, mit der sich eine schwarze Kultur mit dem Mainstream gekreuzt hat – und wie sie daran zugrunde ging.

In Bezug auf R ’n’ B plädieren Sie für wirtschaftliche Autonomie, im Gegensatz zum Konzept der Integration. Wie lässt sich diese Position auf den HipHop übertragen?

HipHop ist fähig gewesen, Dinge zu tun, die keine afrikanisch-amerikanische Kultur vorher geschafft hat: Der Crossover umfasst Bereiche, in die R ’n’ B nie vorgedrungen ist. HipHop ist heute der Mainstream. Und er hat alles, was ihn umgibt, neu definiert. Und zwar nach seinen eigenen Maßstäben, das ist das Verblüffende und Radikale.

R ’n’ B war immer eine großartige und auch sehr einflussreiche Musik. Aber jeder mittelmäßige Rapper steht heutzutage kurz vor einer Hollywoodkarriere. Aretha Franklin dagegen hat nie einen eigenen Film gemacht!

Was bedeutet das für die Dialektik zwischen Subkultur und Mainstream?

HipHop hat diese Dialektik durchbrochen. DefJam-Gründer Russell Simmons ist ein gutes Beispiel dafür, wie HipHop beides ist: autonom und integriert zugleich. Er hat Millionen mit HipHop-Platten, TV-Shows, Filmen, Mode und am Broadway verdient. Als nächstes folgt wohl sein eigener Softdrink.

Er ist Allianzen mit unterschiedlichen Industrien eingegangen, aber im Grunde genommen gehört er sich selbst: Kein Plattenfirmenboss kann sein Leben ruinieren. Durch die Durchdringung von verschiedenen Branchen ist HipHop so diversifiziert, dass er einerseits diesen unglaublichen Erfolg und Massenzugang hat, und sich andererseits weiter auf dem street level bewegt.

Sie sehen in HipHop das Produkt eines schizophrenen Amerikas: Er ist erfolgreicher denn je, und gleichzeitig so zerrissen wie nie zuvor. Welche Prognose geben Sie dem Patienten?

In Amerika ist HipHop sehr mächtig – zumindest als Marketingkraft. In kreativer Hinsicht aber gilt das lange nicht mehr so wie einst. Außerhalb der USA dagegen gibt es noch ein riesiges Wachstumspotenzial.

Wenn Sie Ihrem HipHop-Buch von 1998 neue Kapitel hinzufügen müssten, was würden Sie ergänzen?

Ich würde über die andauernde Expansion außerhalb der Musik schreiben: Mode-, Film- und Fernsehverwertungen, also über Will Smith und Queen Latifah.

Kriminalität wäre ein weiteres Thema. Aber auch die Spoken-Word-Bewegung, die durch HipHop wiederbelebt wurde. Unverzichtbar wäre ein Kapitel über Lauryn Hill: Weil sie die Rolle der Frauen im HipHop neu definiert hat. Und natürlich Eminem und sein Film.

Eminem, der erfolgreichste Rapper der USA, ist ein Weißer. Was denken Sie darüber?

Eminem ist ein Kind von Ice Cube, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Was Eminem zum bisherigen HipHop-Diskurs beiträgt, ist, dass er für seine Klasse, und nicht seine Rasse spricht. Ich betrachte ihn nicht als white rapper, sondern als white trash rapper – was ein großer Unterschied ist. Er vermarktet sich nicht als Weißer, sondern als Armer.

Sie selbst zählen sich zur Post-Soul-Generation, die auf die Bürgerrechtsbewegung folgte. Wenn es während der Sechziger um den Kampf gegen die Segregation und danach die ökonomische Integration von Afro-Amerikanern ging, worin besteht dann heute der Kampf der HipHop-Generation?

Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Ein Rap-Mogul wie Russell Simmons ist im HipHop-Summit engagiert – einer Vereinigung, die versucht, die HipHop-Generation zu politisieren. Vor zwei Wochen fand dazu in Detroit eine Versammlung statt, vor mehr als 10.000 Leuten. Eines der interessantesten Phänomene dabei war für mich Kwame Kilpatrick, der Bürgermeister von Detroit, der als Schirmherr der Veranstaltung auftrat. Er ist erst in seinen frühen Dreißigern, und er ist der erste wichtige HipHop-Politiker. Er kennt jeden Run-DMC-Reim und hört sich Jay-Z im Rathaus an: Er könnte die Zukunft sein.

Es ist das erste Mal, dass wir einen Schwarzenführer haben, der ein reines Produkt der HipHop-Ära ist. Ich erwarte mehr solcher Leute, die nicht einfach nur neue Fürsprecher sind, sondern als gewählte Amtsträger die Politik der Stadt mitbestimmen. Diese neuen Politiker müssen sehr feinfühlig für Klassenfragen sein, denn HipHop ist nicht mehr eine Angelegenheit von Schwarz und Weiß, sondern eine von Armen und Reichen. Russell und die Förderer des HipHop-Summits könnten Könige erschaffen. Mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen und dem Zugang zu den Massen werden sie viele Hebel in Bewegung setzen, um das zu erreichen.

Wie stehen die Chancen dafür unter der Regierung Bush?

Bush scheint überhaupt nicht an kommunaler Politik interessiert zu sein. Urbane Kulturen zu attackieren, das zählte in den Achtzigerjahren zur Agenda von Ronald Reagan, und auch Bill Clinton hat den Rap verteufelt.

Bush dagegen ist auf seine internationale Agenda fixiert. Seine kommunale Politik ist furchtbar: Es gab Kürzungen in allen Bereichen, keine Unterstützung. Aber aufgrund des Anschlags vom 11. 9. ist das alles in den Hintergrund geraten. Und er möchte gerne, dass es auch dort bleibt.

Viele HipHopper sind Muslime. Wie verhalten sich diese Rapper zu George W. Bushs Kreuzzug-Rhetorik?

Es gibt Leute, die sich dabei sehr unwohl fühlen. Wegen 9/11 aber sind sie verunsichert, geteilt und verstummt. Die Stars haben sich, wenn überhaupt, auf Mixtapes kritisch zum Irakkrieg geäußert. Das Radio hat Antikriegssongs boykottiert, und der Rest ging im Internet unter.

Dagegen ist der sexistische und materialistische Einfluss im HipHop unübersehbar: Es scheint, als könne man keine Platten mehr ohne Bikini-Videos verkaufen.

Nicht erst seitdem Puff Daddy und Jay-Z den big baller und seinen Luxus popularisiert haben, handelt HipHop davon, dass Leute Dinge besitzen wollen, die sie sich nicht leisten können. Es ist eine urban phantasy music. Wir leben in sehr materialistischen Zeiten, und je ärmer die Leute werden, desto mehr haben sie das Verlangen nach Konsum. Das ist sehr konformistisch. Sie rebellieren gegen nichts. Sie wollen shoppen gehen. Das ist der mächtige und verstörende Trend, den HipHop nicht anführt, sondern reflektiert.

Sie behaupten, dass jedes Jahrzehnt einen neuen schwarzen Tanzmusikstil hervorgebracht hat. Was kommt als nächstes?

Als kommerzielle Ware hat HipHop den Markt so fest im Griff, dass er viele neue Richtungen ausgeschlossen hat – auch aus Europa, von wo wichtige musikalische Innovationen kamen. Und selbst in den USA! In Houston gibt es einen neuen Sound, der Screw Music heißt – weil man ihn beim Sex hört. Viele dachten, das wird das nächste große Ding. Aber es verschwand.

Wie klingt Screw Music?

Es ist sehr verlangsamte Musik, sehr verschwommen. Dazu trinken sie Hustensaft, um vom Codein high zu werden. Sie nennen das sippin on sirup. DJ Screw hat die Musik erfunden, aber er starb vor zwei Jahren an einer Überdosis Codein. Mit ihm verlor die Musik ihre winzige Chance, die Dominanz von HipHop im Radio abzulösen.

Wir werden also auf absehbare Zeit nicht von HipHop verschont bleiben. Wann werden wir ihn satt haben?

Weil er so anpassungsfähig ist, ist er schwer totzukriegen. Das Format ist so wandelbar, dass du über alles rappen kannst.

Und dann gibt es diesen Video-Zentrismus: Selbst wenn die Leute meinen, genug davon zu haben, schauen sie sich immer noch die Videos an. Es ist schwer, die kreisenden Mädchen zu übertreffen. Aber es könnte auch passieren, dass wir eines Tages zurückblicken und sagen: Das war die Phase, als alles den Bach runterging. Und, oh yeah: Screw Music ist das neue Ding! Wie konnte ich damals nur so blind sein und das übersehen. Du weißt nie, was noch kommt.

Auf Deutsch sind von Nelson George „XXX – Drei Jahrzehnte HipHop“ und „R ’n’ B – Die Geschichte der schwarzen Musik“ erschienen (je 288 S., 15 Euro, Orange Press). Auf seiner Lesereise zeigt George auch seine Dokumentation „A Great Day In HipHop“. 9. 5. Heidelberg, 11. 5. Berlin, 12. 5. Köln, 14. 5. Leipzig, 15. 5. Zürich, 16. 5. Wien