Tod ist ein Strukturproblem

Eine aktuelle Studie der Uni Essen-Duisburg sieht die Stadtflucht aus dem Ruhrgebiet vorerst gestoppt. Vor allem die hohe Sterberate lasse die Bevölkerung in den Städten schrumpfen

VON ANNIKA JOERES

Ein gestern in Essen vorgestelltes Gutachten hinterfragt die bisherige Bevölkerungspolitik im Ruhrgebiet: Die massive Abwanderung aus den Kernstädten des Reviers ist seit dem Ende der 1990er Jahre abgebremst. Und es sind nicht die kinderreichen Häuslebauer, die in die so genannten Speckgürtel abwandern, sondern MieterInnen auf der Suche nach größeren Wohnungen. Das ist das Ergebnis einer 180-Seiten starken Studie von Hans Blotevogel, Geographie-Professor an der Universität Duisburg-Essen. Er hat 2.500 Haushalte befragt, die in den vergangenen Jahren ins Umland umgezogen sind.

„Unsere neue Message ist: Die Stadtflucht ist gebremst“, sagt Blotevogel. Nicht die abgewanderten Bürger und Bürgerinnen haben die Einwohnerzahlen in den letzten Jahren sinken lassen, sondern die vielen Sterbefälle. So hat zum Beispiel Mülheim in den vergangenen Jahren 1,5 Prozent neue BürgerInnen begrüßen können, aber zugleich sind vier Prozent von ihnen gestorben. „Der Sterbefallüberschuss ist entscheidend, nicht die Abwanderung“, so Blotevogel.

Zwei Entwicklungen haben die Ruhrgebietsflucht gebremst: Bauland ist in Wesel oder Recklinghausen mittlerweile genauso teuer wie in Dortmund oder Essen. Erst sehr weit draußen im Münsterland wird das Hausbauen wieder günstiger. Und die bisher sinkende Bevölkerungszahl hat auch den Mietmarkt im Revier entspannt – die Wohnungspreise sind im Durchschnitt in den vergangenen Jahren kaum gestiegen. Trotzdem beweist auch eine zweite Studie des Landesamts für Daten und Statistik: Bis 2015 wird das Ruhrgebiet weitere 200.000 Menschen verlieren – aber nur ein Viertel von ihnen ans Umland, drei Viertel hingegen an den Friedhof. Auf diese 25 Prozent kann das Revier nicht verzichten: „Das Schrumpfungsproblem ist nicht gelöst“, warnt Blotevogel.

Entgegen bisheriger Annahmen sind es nur vereinzelt Arbeitssuchende, die aus den Kommunen zwischen Duisburg und Dortmund vertrieben wurden. Die AbwandererInnen flüchten viel mehr vor sozialen Problemen in ihren Stadtteilen, vor einer zumindest empfundenen Unsicherheit, vor tristen Geschäftszeilen, leeren Wohnblöcken und Lärm. Genauso viele Menschen suchen aber schöne und vor allem größere Wohnungen im Grünen: Der persönliche Bedarf an Wohnraum sei in den letzten Jahren um neun Quadratmeter pro Kopf gestiegen, so Blotevogel.

Der Kommunalverband Ruhr (KVR), der die Studie in Auftrag gegeben hatte, will nach seiner Umwandlung in den Regionalverband Ruhr einen Masterplan „Neue Siedlungsstrukturen und zukünftiges Wohnen im Ruhrgebiet“ erstellen. „Städte und Gemeinden sollen mit der Wohnungswirtschaft kooperieren“, fordert KVR-Kämmerer Dieter Hötker. Über Genehmigungsverfahren ließe sich die zukünftige Wohnungslandschaft beeinflussen.

Außerdem setzt der KVR auf ein positives Image des Reviers, um neue SteuerzahlerInnen und KonsumentInnen anzulocken. Wer wisse schon, dass dreißig Berghalden und zahlreiche Parks im Ruhrgebiet locken? Und allein ein kulturelles Ereignis wie die Ruhrtriennale habe dem Revier in allen großen Zeitungen positive Schlagzeilen gebracht.