Des Kanzlers neue Kleider

Mit Gerhard Schröders Agenda 2010 geht es ein wenig märchenhaft zu. Plötzlich sagen fast alle in der SPD: Die Sozialreformen sind notwendig. Die Rebellion an der Parteibasis ist ausgeblieben, und die Abweichler in der Bundestagsfraktion sind isoliert

Ist die Agenda 2010 in der SPD jetzt gelaufen? General Olaf Scholz sagt nur ein Wort: „Ja“

aus Hamburg JENS KÖNIG

Manchmal ist die sozialdemokratische Welt märchenhaft schön. Olaf Scholz sitzt am Mittwochabend entspannt beim Italiener am Hamburger Hafen und nimmt genüsslich die Frage entgegen, warum denn auch die dritte Regionalkonferenz, die gerade in der überfüllten Fischauktionshalle ein paar hundert Meter weiter zu Ende gegangen ist, nicht zu der befürchteten Abrechnung der Basis mit ihrem Parteichef geführt hat. „Also“, sagt Scholz mit einem Lächeln auf den Lippen, „mit der Reformagenda 2010 ist es wie mit dem Märchen vom Kaiser und seinen neuen Kleidern. Erst als ein kleines Mädchen sich traut zu sagen, der Kaiser ist ja nackt, wissen es plötzlich alle.“ In Scholz’ Version ist natürlich der Kanzler das mutige Mädchen. „Seit Gerhard Schröder die Agenda in die Welt gesetzt hat, sagen plötzlich alle, ja, sie ist notwendig.“

Vielleicht muss man ja SPD-Generalsekretär sein, um an die Zauberkraft seiner eigenen Politik zu glauben. Andererseits, wenn man die Geschichte des Aufstandes in der SPD gegen Schröders Sozialreformen von ihrem vorläufigen Ende her erzählt, dann steckt in Scholz’ Märchen ein irritierendes Moment von Wahrheit: Plötzlich sagen ja wirklich viele Genossen, die Reformen seien notwendig, manchmal mit dem Zusatz, hier und da, bitte schön, doch noch nachzubessern. Nach dem etwas rauen Auftakt in Bonn konnte man bei den Regionalkonferenzen in Nürnberg und Hamburg das Ende der angekündigten Rebellion besichtigen.

Wie soll man das erklären? Da tritt zwischen den grünen Stahlträgern der alten Fischauktionshalle in Hamburg die SPD-Distriktvorsitzende von Altona ans Mikrofon und erklärt, dass in ihrem Stadtteil wegen Schröder eigentlich alle aufschreien müssten. „Tun sie aber nicht“, sagt sie, obwohl in Altona nicht gerade die Reichen, Begüterten und Schönen der Stadt wohnten. „Wir haben über die Agenda 2010 gesprochen. Alle Genossen hatten an irgendeinem Punkt Bauchschmerzen“, erzählt sie weiter. „Aber hinterher waren wir uns einig: Wir wollen die Agenda nicht zerfleddert sehen. Wenn die SPD den Sozialstaat nicht rettet, werden ihn die anderen zerschlagen.“ Beifall.

In diesem Tenor reden viele Genossen: Die Reformvorschläge sind hart, aber notwendig. Wenn wir’s nicht machen, machen’s die bösen Schwarzen. Wir wollen keinen anderen Kanzler.

Es gibt selbstverständlich auch andere Stimmen an diesem Abend. Sie beklagen den Bruch von Wahlversprechen wie etwa beim Kündigungsschutz. Sie kritisieren die soziale Unausgewogenheit der Agenda. Und sie glauben nicht an die von Schröder versprochenen Arbeitsplätze. „In Mecklenburg-Vorpommern sind 280.000 Menschen arbeitslos“, ruft verzweifelt ein IG-Metaller. „Aber es gibt nur ganze 3.000 offene Stellen. Das ist die Realität.“ Den Kritikern ist es in den zurückliegenden Wochen nicht gelungen, in der Partei zu Meinungsführern zu werden. Vielleicht ja deswegen, weil sie auch in der Gesellschaft in der Minderheit sind.

Natürlich hat der Generalsekretär eine Erklärung dafür, wie diese politische Willensbildung in der SPD zustande kommt. Wenn ein Genosse nach einer der Regionalkonferenzen von seinen Kollegen im Betrieb wieder mal wegen der SPD-Politik angegriffen werde, so Scholz, dann werde er bestimmt mal die Argumente verwenden, die er von Schröder gehört hat. „Und er wird feststellen, dass das wirkt.“ Aber hallo.

So einfach sickert Schröder dann wohl doch nicht in die Gehirne der Genossen. Seine kaum versteckten Rücktrittsdrohungen haben da schon eher einen disziplinierenden Effekt. Sein Hinweis, an der rot-grünen Bundesregierung hänge das Schicksal der europäischen Linken überhaupt, tut sein Übriges. Dazu hat dem Kanzler, das wird von seinen Leuten gern zugegeben, in dieser Woche sowohl die Union als auch der DGB geholfen. Deren Vorschläge schweißen die SPD eher noch zusammen.

Das haben kurioserweise auch die zwölf Abweichler aus der SPD-Fraktion mit ihrem Mitgliederbegehren geschafft. Sie haben viele in der Partei verärgert. Ihnen fehlte ein prominenter, glaubwürdiger Anführer. Dem Vorwurf der Profilneurose konnten die Abweichler nichts entgegensetzen – außer lächerlichen 6.000 Unterschriften unter das Mitgliederbegehren; rund 70.000 sind für dessen Erfolg notwendig. Bei vielen Genossen heißen sie nur noch das „dreckige Dutzend“.

Olaf Scholz kann sich ihnen gegenüber sogar schon wieder gönnerhaft geben. „Ein Teil der Abweichler ist gerade auf dem Weg herauszufinden, wie sie die Agenda doch noch mittragen können“, sagt er. Die Zustimmung der zwölf Abgeordneten im Bundestag muss Fraktionschef Franz Müntefering organisieren, und er tut dies auf die ihm eigene Art. Auf der Fraktionssitzung am Dienstag hat er sie vor versammelter Mannschaft zusammengefaltet. Er warf ihnen vor, eine „absolute Sauerei“ begangen zu haben, weil sie das Mitgliederbegehren hinter dem Rücken der gesamten Fraktion organisiert hätten. Trotzdem hat Müntefering, wie er sagt, „keine Türen zugeschlagen“. Bis zur Entscheidung des SPD-Parteivorstands über den Leitantrag am 19. Mai wird der Fraktionschef mit den Abweichlern über ihre Änderungswünsche verhandeln.

Die SPD-Führung ist erleichtert. Die Debatte in der Partei läuft, so drückt es Schröder jetzt aus, „vernünftig“. Olaf Scholz im italienischen Restaurant in Hamburg ist mit seiner Arbeit zufrieden. Ob die Agenda 2010 gelaufen ist, wird er gefragt. Er sagt nur ein Wort. „Ja.“