Zaungäste des Fortschritts

Teddy, der Inkommensurable (5): Wie ich am Ende der Sechzigerjahre beinahe von Adorno gerettet worden wäre – dann aber erst nach zwei verlorenen Berliner Jahren und allerlei politischen Irrungen und Wirrungen seine Sensibilität und Verletzlichkeit als Produktivkräfte des Denkens zu verstehen lernte

Was Adorno verkörperte, war Kritik statt AffirmationSelbst in seinen Schwächen scheint mir Adorno noch liebenswert zu sein

von JOCHEN SCHIMMANG

Adorno habe ich gleichsam knapp verfehlt, und ich bin überzeugt, dass alles in meinem Leben anders gekommen wäre, wenn nur die Ereignisse des Frühjahrs 1969 anders verlaufen wären. Im Februar oder frühen März 1969 fuhr ich nach Frankfurt am Main, um mir ein Zimmer zu suchen und ein paar Wochen später mein Studium aufzunehmen, unter anderem das der Philosophie. Dass ich kein Zimmer fand, hätte sich noch reparieren lassen, dass aber die Universität Frankfurt kurz danach zu meiner Bewerbung um einen Studienplatz noch eine etwas läppische Nachfrage hatte, verärgerte mich so sehr, dass ich mich für Berlin entschied, wo ich mich ebenfalls beworben hatte und man keine weiteren Nachfragen stellte.

Ich bin bis heute überzeugt, dass das ein Fehler war. Wäre ich Adorno noch begegnet, selbst so kurz vor seinem Tod, so wäre ich gegen die ganze Tristesse der kommunistischen Parteikostümierung resistent gewesen, der ich ein knappes Jahr nach meinem Studienbeginn in Berlin erlag und die mich zwei Jahre meines Lebens kostete. Ich hätte mich einen feuchten Lehm um den Kampf zweier Linien, um Sozialfaschismus oder die Stalinfrage geschert, und ich wäre niemals auf Maidemonstrationen im disziplinierten Block voller Angst durch den Wedding oder andere bedrohliche Gegenden gelaufen, wo die Berliner Arbeiterklasse aus dem geöffneten Fenster auf uns herabschimpfte. Ich hätte nie etwas anderes sein wollen als das Bürgerkind, das ich war.

Als ich nach Frankfurt wollte und in Berlin landete, war die Frankfurter Schule für mich kaum mehr als ein Gerücht. Ich hatte wenig mehr gelesen als ein paar späte Aufsätze zu Fragen der Kunst und der Gesellschaft, und wie viele andere Leser war ich eher durch den manirierten sprachlichen Gestus fasziniert als durch die Inhalte, die ich kaum verstand. Nur so viel begriff ich eigentlich, dass es immer darauf ankam, nein zu sagen, und dass individuelles Glück Verrat war. Mit einer solchen Haltung wäre ich individuell gewiss viel glücklicher geworden als mit dem entschlossenen klassenkämpferischen Optimismus in der stillen Öde Westberlins. Was Adorno verkörperte, so viel hatte ich schon damals eher erahnt als verstanden, war Kritik statt Affirmation.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass ich nach dem Ende unserer revolutionären Organisation, an deren Auflösung ich tatkräftig mitgearbeitet hatte, in die Lektüre der Schriften Adornos geradezu eintauchte. Hatte ich während meiner Kaderzeit Proust noch heimlich gelesen, so konnte ich jetzt die „Minima Moralia“, die ja mit einem „Für Marcel Proust“ betitelten Passus beginnen, ganz offen mit mir herumtragen. Vermutlich hat mich nach den großen kollektiven Räuschen, an die ich im Innersten nicht eine Sekunde lang geglaubt hatte, schon allein der eine Satz angezogen, dass das Ganze das Unwahre sei. Auch wenn die „Minima Moralia“ fast auf jeder Seite von der Ohnmacht des Einzelnen sprechen und davon, wie jede „richtige“ Handlung vom Ganzen verschluckt wird und in ihr Gegenteil umschlägt, war Adorno in jenen frühen Siebzigerjahren derjenige, der mir die endgültige Absolution vom Kollektiv erteilte. Ich musste auch nicht länger stellvertretend für die Arbeiterklasse denken, sondern konnte zurückkehren zu der Bürgerlichkeit, aus der ich gekommen war. Das fiel allerdings in einer Stadt wie Westberlin, dessen Bürgertum beinahe unsichtbar war, etwas schwer. Deshalb habe ich die Stadt nach meinem Studienabschluss auch fluchtartig verlassen.

Zurückkehren zu der Bürgerlichkeit, aus der ich gekommen war, das hieß auch: zu dem Wunsch zurückkehren, Schriftsteller zu werden. Dieser Wunsch war mir ja durch die revolutionäre Maskerade zwischenzeitlich ausgetrieben worden. Es liegt nahe, dass ich einem Denker, der unzählige Noten zur Literatur und eine „Ästhetische Theorie“ verfasst hatte und der ein Künstlerphilosoph par excellence gewesen war, sehr nahe stand.

In einem Text müsse jeder Satz gleich nah zur Mitte stehen, hat Adorno geschrieben. Dieser Anspruch erklärt die Hermetik, das faszinierend Undurchdringliche seiner eigenen Texte, das so sehr zur Nachahmung einlädt. Bevor ich wieder begann, Geschichten zu erzählen und schließlich zu meiner eigenen kam, schrieb ich in jener Zeit also theoretische Miniaturen im Adorno-Stil. Freundlicherweise könnte man das Mimesis nennen; natürlich war es pures, albernes Epigonentum, das sich nur kurze Zeit durchhalten ließ, bis ich selber seine Lächerlichkeit erkannte. Die Forderung aber, dass jeder Satz gleich nah zur Mitte stehen müsse, ist mir bis heute einleuchtend und zwingend geblieben.

Dabei ist es keineswegs die „Ästhetische Theorie“ selber, die mich bei Adorno interessiert. Ich habe dieses Buch niemals zu Ende gelesen, ebenso wenig übrigens wie die „Dialektik der Aufklärung“. In diesem Widerstand drückt sich vermutlich meine praktische Auslegung des Satzes aus, dass das Ganze das Unwahre sei. Adorno fasziniert mich je mehr, desto mehr er sich dem Besonderen und dem Kleinen widmet, ohne das unwahre Ganze je zu vergessen und ohne jemals niedlich zu werden. Das ist natürlich in den Texten der „Minima Moralia“ der Fall, in kleineren Essays wie etwa dem wunderbaren Stück über Satzzeichen oder dem über Amorbach, den Sommerort seiner Kindheit. Damit jemandem ein Autor wirklich etwas bedeutet, reicht es ja völlig aus, wenn es bestimmte Texte von ihm gibt, die man immer wieder liest.

Deshalb hat sich zwar im Lauf der Jahrzehnte mein Blick für die Schwächen dieses Autors geschärft, aber eine wirkliche Entzauberung hat nicht stattgefunden. Im Gegenteil, selbst in seinen Schwächen scheint mir Adorno noch liebenswert zu sein, und vermutlich machte Schwäche als Haltung überhaupt sein Wesen aus. Anfang 1977 stieß ich auf den Band „Studentenbewegung 1967–69“, der im Verlag Roter Stern erschienen und von Frank Wolff und Eberhard Windaus herausgegeben wurde. Es findet sich dort auch ein Kapitel über das Frankfurter Wintersemester 1968/69, das reich mit Fotos dokumentiert ist. Man sieht dort den kleinen Mann, der neben Jürgen Habermas am Eingang des Hörsaals VI steht und irgendwie erstaunt auf die (streikenden) Studenten zu blicken scheint, ein Urbild der Schwäche und Wehrlosigkeit. Ob sein Tod im Sommer danach durch die Wirren dieses und des folgenden Semesters (an dem ich ja eigentlich in Frankfurt hatte teilhaben wollen) hervorgerufen oder wenigstens beschleunigt worden ist, ist eine müßige Frage. Adornos Sensibilität und Verletzlichkeit jedenfalls war zugleich eine wesentliche Produktivkraft seines Denkens. Bei allem äußeren Erfolg bleibt mir das Bild eines von Anfang an Gefährdeten, Ausgesetzten.

Man kann respektieren, ja verehren, ohne in quasi religiöse Schwärmerei zu verfallen. Daher habe ich mit der vielfachen Persiflage auf Adorno, für die stellvertretend die so genannte Neue Frankfurter Schule und der schöne Titel „Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte“ stehen, kein Problem, sondern fand sie eher befreiend: in dem Sinn, dass man die nötige Distanz zum Objekt seiner Verehrung gewinnt, ohne es verraten zu müssen.

Ich selber habe mich für eine Jazzsendung im Rundfunk einmal in diesem Genre geübt, in einer kleinen Erzählung, in der der Jazzhasser aus Europa in einer Bar in New York zufällig Miles Davis trifft – und eine schöne Schwarze dazu. Ich bin mir auch sicher, dass Adorno in gewissen Lebenssituationen eine durchaus lächerliche Figur gemacht hat, wie es uns allen unterläuft.

Das hat mich in bestimmten Momenten nicht vor Ergriffenheit bewahrt, etwa als ich zusammen mit meinem ehemaligen Lektor vor Adornos Grab auf dem Frankfurter Hauptfriedhof stand, das wir erst nach einiger Mühe gefunden hatten. Durch die lange Suche und die späte Heimkehr war übrigens inzwischen zu Hause im Backofen des Lektors ein Essen verkohlt. Es hat mich auch nicht vor gewissen Torheiten bewahrt wie der, zweimal nach Amorbach zu fahren, um dort vielleicht per Geist des Ortes etwas vom Geiste Adornos zu finden. Stattdessen fand ich dort bei meinem zweiten Besuch wenigstens ein gutes Restaurant, das dem kultivierten Bürger Adorno vielleicht auch gefallen hätte.

Als ich nach dem Ende der kommunistischen Krämpfe erstmals die „Minima Moralia“ las, stieß ich gleich bei dieser ersten Lektüre instinktsicher auf meinen Lieblingstext von Adorno, der es bis heute geblieben ist. Er heißt „Sur l’Eau“ und beschließt den mittleren Teil des Buches. Es geht um die Antwort auf die Frage, wie denn die richtige Gesellschaft aussehen sollte, und nachdem Adorno vor dem „Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen“ zusammengezuckt ist und die „Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb“ als Schreckbild entfaltet hat, gibt er schüchtern einer zarten Hoffnung Ausdruck: „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.“ Die Hoffnung hat sich noch nicht erfüllt und wird sich gewiss auch nicht erfüllen – aber individuell gedacht und gelebt werden kann sie gleichwohl. „Keiner unter den abstrakten Begriffen“, endet dieses Stück, „kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wie Maupassant und Sternheim haben dieser Intention zum Ausdruck verholfen, so schüchtern, wie es deren Zerbrechlichkeit einzig verstattet ist.“ Dass ich nach den quälenden Märschen durch den Wedding und Neukölln dann doch noch zu einem Zaungast des Fortschritts werden konnte, verdanke ich Adorno mehr als irgendjemandem sonst.