Merkel in der Testphase

Die Popularität der Union ist auf dem Höhepunkt, die nächste Bundestagswahl fern. Angela Merkel nutzt die Gelegenheit, ihre Partei auf Kurs zu bringen

AUS BERLIN MATTHIAS URBACH
UND LUKAS WALLRAFF

Angela Merkels Führungsstil hat etwas von einem ständigen Experiment. Auf dem Weg zur erhofften Kanzlerschaft überrascht die CDU-Chefin die Öffentlichkeit – und die eigene Partei – immer öfter mit radikalen Ideen. Das Experiment besteht darin, an den Folgen auszutesten, wie weit sie gehen kann. So war es bei der Präsentation des Herzog-Konzepts für das Gesundheitswesen zum Tag der Deutschen Einheit. So kann man auch die Bekanntgabe des neuen Unions-Konzepts zur Reform des Arbeitsmarkts betrachten.

Urplötzlich kam da am Wochenende ein Papier zum Vorschein, das die Generalsekretäre von CDU und CSU formuliert hatten – als Tischvorlage für die gemeinsame Präsidiumssitzung der Unionsparteien. Merkel hatte es, wie sie sagte, „selbstverständlich gekannt“.

Die Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und das Recht der Unternehmer, ihren Angestellten unentgeltlich Mehrarbeit aufzudrängen, wird darin gefordert, der Kündigungsschutz soll radikal gelockert werden. Es folgte am Wochenende ein jäher Aufschrei in der Union, nicht nur des CDU-Arbeitnehmerflügels, sondern auch prominenter CDU-Ministerpräsidenten, die im Wahlkampf stehen.

Saarlands Peter Müller kritisierte die „zu einseitige Belastung der Arbeitnehmerseite“. Nordrhein-Westfalens CDU-Parteichef Jürgen Rüttgers gab zu Protokoll, er werde „so nicht zustimmen“. Das Ergebnis: Merkel zieht zurück, das Papier wird entschärft. Erst einmal. Doch das Thema, sagt Angela Merkel gestern entschieden vor der Presse, sei noch nicht vom Tisch. „Richtig verstanden haben Sie, dass wir das weiter diskutieren.“ Und zwar „ergebnisoffen“.

Die Popularität der Union ist auf dem Höhepunkt, die nächste Bundestagswahl fern, eine gute Zeit also, um die Union auf Kurs zu bringen. Nach Merkels Willen soll der künftig neoliberaler sein. Doch bei aller Entschlossenheit in Machtfragen scheint die CDU-Chefin nicht sicher zu sein, wie weit sie gehen kann. Wie stark ist der Arbeitnehmerflügel? Wie verhält sich die bayerische Schwester? Dies gilt es, bei jedem neuen Vorschlag vorsichtig abzutasten. Trial and Error. Politisches Experimentieren.

Das fällt um so schwerer, als der Konflikt um die politische Erneuerung der Union überlagert wird von der Konkurrenz Stoibers, Kochs und Merkels um die Kanzlerkandidatur.

Das Gerangel führt zu fast absurden Positionswechseln. So war es vor allem die CSU, die den von Merkel geförderten großen Wurf in der Steuerreform – das Merz-Modell – ausbremste und nun erfolgreich vertagte. Im Kampf um Eigenheim- und Pendlerpauschale spielte sich CSU-Chef Edmund Stoiber gar zum sozialen Gewissen der Union auf.

Doch in der Nacht zum Montag nun auf der Sitzung der beiden Präsidien der Union konnte Stoiber die Aushebelung der Arbeitnehmerrechte gar nicht rasch genug gehen. „Wir wären ein Stück weiter gegangen“, betonte er gestern auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel. Und während die CDU-Chefin noch Verständnis für die zögerlichen Kollegen zeigte, befand Stoiber klipp und klar: „Wir, die CSU, sind der Meinung, das ist notwendig.“

So explizit würde sich Merkel nie festlegen. Sie hält sich stets eine Hintertür offen. Die Opposionsführerin wird den Angriff auf die Tarifautonomie bei Gelegenheit wieder aufnehmen oder aber stillschweigend fallen lassen. Ganz nach den machtpolitischen Erfordernissen. So wie sie es schon mit ihrer Forderung nach der Kopfpauschale in der Krankenversicherung getan hat: Im Herbst hatte sie sich erstmals selbst aus der Deckung gewagt, und mit diesem Vorstoß ihr Image als neoliberale Parteireformerin gefestigt. Der Vorschlag selbst ist hingegen wieder in der Warteschleife.

In dem Sonntagnacht verabschiedeten „Wachstumsprogramm von CDU und CSU“ ist der Vorschlag nicht vorhanden. Zu schlecht kam er in der Öffentlichkeit an. Als zu schwierig erwies sich die Gegenfinanzierung. Versuch und Irrtum eben.

Der plötzliche Aufschrei vom Wochenende, dem sich neben Rüttgers und Müller auch Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulf und CDU-Vize Christoph Böhr und weiter Mitglieder der CDU anschlossen, illustriert, dass auch die Union in ihrem jetztigen Zustand, wäre sie Regierungspartei, vor ähnlichen Problemen stünde wie Kanzler Gerhard Schröder während der Errichtung seiner Agenda 2010.

Darüber können auch so schmissige Formulierungen nicht hinwegtäuschen wie der Satz aus dem Sonntagnacht verabschiedeten Steuerkonzept: „Im Falle eines vorzeitigen Scheiterns der Bundesregierung könnte dieser Reformschritt bereits zum 1. Januar 2005 in Kraft treten.“