Wähler sterben aus

In Problemstadtteilen des Reviers geht nur noch jeder Fünfte zur Kommunalwahl. Sozialforscher sprechen von „demokratiefreien Zonen“

Gestaltungspessimisten sind Menschen, die kein Vertrauen mehr in die eigene Kraft und Stimme haben

VON NATALIE WIESMANN

Jeder Zweite in Nordrhein-Westfalen wird nicht wählen gehen, so lautet die düstere Prognose der Fachleute für die Kommunalwahlen im Herbst. Bereits bei der letzten Ratswahl lag die Beteiligung im Landesdurchschnitt bei 55 Prozent. Diese Zahl könnte nun unterschritten werden, so Hans Walter Schulten von der Landeszentrale für politische Bildung NRW anlässlich eines Kongresses im Zollverein Essen am vergangenen Freitag.

In ärmeren Ruhrgebietsvierteln wie Duisburg-Marxloh und dem Essener Westviertel hätte die Partizipation bereits 1999 bei rund 30 Prozent gelegen, in manchen Stimmbezirken rechnet man mit dem Absinken der Beteiligung auf 20 Prozent. Sozialwissenschaftler sprechen zunehmend von „demokratiefreien Zonen“.

Die Wahlbeteiligung klafft jedoch von einem Bezirk zum anderen stark auseinander: Im Essener Süden gehen 70 Prozent zur Wahlurne, eine hohe Zahl in Anbetracht der allgemein niedrigen Beteiligung bei Kommunalwahlen. „Die Differenz zwischen den Nichtwähler-Hochburgen und Bezirken mit hoher Wahlbeteiligung wird immer größer, so Klaus Peter Strohmeier vom Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung (ZEFIR) an der Ruhr-Uni Bochum.

Die Stadtteile mit niedriger Wahlbeteiligung sind solche, in denen viele Migranten, viele Alten und Sozialhilfeempfänger leben. Und die Forscher haben für die Bürger, die sich von der Politik abwenden, einen Namen gefunden: Gestaltungspessimisten. Diese trauen weder sich noch anderen zu, einen Ausweg aus Armut, Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu finden.

Ausschlaggebend für die Wahlmotivation ist aber weniger die Armut als die fehlenden Bindungen an den Stadtteil, hat das ZEFIR herausbekommen. In manchen Vierteln im Ruhrgebiet herrsche eine so hohe Fluktuation, dass ihre Bevölkerung praktisch alle drei bis vier Jahre völlig ausgetauscht werde. Fast jeder „demokratiefreien Zone“ stehe aber auch in jeder Revierstadt mindestens ein ärmeres Viertel gegenüber, dessen Wahlbeteiligung trotz hohem Migrantenanteil nicht markant niedrig ist, so Strohmeier. „Hier sind die Nachbarschaften stabiler, die Menschen identifizieren sich mit ihrem Stadtteil“, so der Soziologe. Dabei handele es sich meist um montanindustriell geprägte Viertel – wo die Zeche noch steht oder erst vor kurzem geschlossen hat – mit gewachsenen nachbarschaftlichen Strukturen.

Wissenschaftler, Politiker, Lehrer und Kirchenvertreter wollen nun dort ansetzen: Sie wollen mit Wohnungsgenossenschaften zusammenarbeiten, um die lokalen Bindungen zu stärken. „Auch eine gemeinsame Gartenanlage kann Identifikation fördern“, so der Konsens der Experten.

Daniel Schily, NRW-Vorsitzender des Vereins „Mehr Demokratie“, findet die hohe Politikverdrossenheit auch problematisch, widerspricht aber der Formel: Mehr Wahlbeteiligung gleich mehr Identifikation mit dem System. „Die Schweizer zum Beispiel identifizieren sich durchaus mit dem System, obwohl die Wahlbeteiligung niedrig ist.“ Außerdem sei es ein trügerisches Bild, dass gewählte Politiker die Wahlbevölkerung abbilden. Auch in Anbetracht des hohen MigrantInnenanteils, der nicht wählen kann. Sein Verein begrüße jede Form von Bürgerbeteiligung: Bürgerversammlungen und Bürgerhaushalte seien der richtige Ansatz für mehr Interesse an Demokratie.