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: Zu Unrecht vergessen: Karl Emil Franzos’ Roman „Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten“

Menschen auf dem Dorf mögen es nicht, wenn einer aus der Reihe tanzt. Das galt auch Mitte des 19. Jahrhunderts für die jüdische Bevölkerung Ostgaliziens, eines Landstrichs in der heutigen Ukraine. Ein unnützer Schnorrer wurde in der Gemeinde schnell zum „Pojaz“, zum Possenreißer, gekürt. Der in Vergessenheit geratene Berliner Schriftsteller Karl Emil Franzos schildert das Schicksal eines solchen Außenseiters in seinem 1893 entstandenen Roman „Der Pojaz“.

Der jüdische Waisenknabe Sender Glatteis kann Stimmen imitieren und äfft sogar den Rabbi so täuschend echt nach, dass dessen Frau darauf reinfällt. Der „Pojaz“ will unbedingt zum Theater. Begierig verschlingt der Junge Lessings Nathan und andere deutsche Dramen. Er nimmt in Kauf, dafür in der jüdisch-orthodoxen Gemeinde als „Abtrünniger“ zu gelten. Die Rhetorik der deutschen Aufklärung beflügelt seine Hoffnungen: Die Schauspielerei soll ihn frei machen. Bevor Sender aber tatsächlich einen Fuß auf die Bühne setzen kann, rafft ihn die Schwindsucht dahin.

Franzos’ Protagonist ist ein eigensinniger Dorfclown. Um sich vor einer unerwünschten Heirat zu drücken, begrüßt er schon mal den geizigen Brautvater mit einem fröhlichen „Der Alte spart’s, der Junge gibt’s aus!“. Sender ist jedoch niemals richtig boshaft. Mit seinen Albernheiten schützt er sich bloß vor der Kontrolle der Gemeinde. Umso tragischer, dass ihm das Schicksal sein Glück nicht gönnt. Für Franzos ist Sender ein Held, „der mit aller Kraft leidvoll nach einem hohen Ziele strebt“.

Dabei spricht er auch von sich selbst. Parallelen zwischen Autor und Romanfigur sind unverkennbar: Der Schriftsteller wurde 1848 ebenfalls in Ostgalizien geboren. Im „Pojaz“ spiegelt sich seine eigene hybride Identität – er bekannte sich zu seinem jüdischen Glauben, war aber von der Nationalität her Deutscher. Zudem war er nach dem humanistischen deutschen Bildungsideal erzogen worden. Nach einem Jurastudium in Graz und Wien kam Franzos 1887 als Schriftsteller und Journalist nach Berlin.

Lange Zeit war er ein Verfechter der jüdische Assimilation. Mit Hilfe der deutschen Kultur – die er aus ihrer aufklärerischen Vergangenheit heraus verstand – hoffte er, repressiven Tendenzen im orthodoxen Judentum entgegenwirken zu können.

Dass der Schriftsteller am Ende den Glauben an das deutsche Bildungsideal als Heilmittel gegen Intoleranz und Vorurteil wieder verlor, liegt am wachsenden Antisemitismus und der Deutschtümelei, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Berlin breitmachten. Seine Enttäuschung über die scheinbare Unvereinbarkeit von jüdischer und deutscher Identität wird auch im tragischen Ende seines „Pojaz“ deutlich.

Karl Emil Franzos starb vor hundert Jahren, am 28. Januar 1904. Er liegt auf dem Jüdischen Friedhof von Berlin-Weißensee begraben. Nach der Machtergreifung der Nazionalsozialisten wurde der jüdische Schriftsteller systematisch totgeschwiegen und geriet allmählich in Vergessenheit. So wartet der „Pojaz“ immer noch auf seinen großen Auftritt. Er hätte ihn verdient.

TIM ACKERMANN

Karl Emil Franzos: „Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten“. Europäische Verlagsanstalt (eva) 1994, 373 Seiten, 15,50 €