Ein Kreuzzug gegen Feindbilder

Kritischer Polizist, parteiloser Parlamentarier und bekennender Christ: Der GAL-Abgeordnete Manfred Mahr verlässt nach zehn Jahren die Hamburger Bürgerschaft, um katholischer Diakon zu sein. Und wundert sich über Leute, die sich darüber wundern

„Vielleicht braucht Hamburg Schill. Wenn so jemand 20 Prozent bekommt, ist etwas nicht richtig in der Stadt.“„Ich wusste nicht, ob die Kirche überhaupt so einen aufmüpfigen Typen wie mich haben will.“

von ELKE SPANNER

Er auf der einen Seite, seine Freunde auf der anderen. Er im Dienst, seine Aufgabe: Abriegelung der DemonstrantInnen. Und vor ihm dann Männer und Frauen, die in diesem Moment seine Gegner und im Privatleben gute Bekannte waren. „Wie kannst Du diesen Beruf ausüben“, fragten ihn Freunde Ende der 70er Jahre nach Demonstrationen in Brokdorf und Kalkar, und Manfred Mahr fragte sich das irgendwann auch. Statt für Entweder-oder entschied er sich für den Kompromiss: Der polizeikritische Polizist ging in die Politik. Seit fast zehn Jahren, seit September 1993, sitzt er für die GAL in der Hamburger Bürgerschaft, jetzt wird Mahr der Politik den Rücken kehren. Am nächsten Sonnabend wird der 48-Jährige sich zum Diakon der katholischen Kirche weihen lassen und sein Abgeordnetenmandat niederlegen.

Zeichnungen von Karl May-Motiven hängen über dem grünen Ledersofa im Raum neben der Wohnküche, der „mein Zimmer“ ist. In der Eimsbütteler Wohnung der Mahrs gibt es kein Elternschlafzimmer, Kinderzimmer und Wohnzimmer mit Fernseher und Sitzecke. Das Ehepaar lebt mit Sohn und Tochter, beide Studenten, wie in einer WG. Vier Leute, vier Zimmer, jeder hat einen eigenen Raum. In Mahrs Zimmer ist jeder Zentimeter an Wand und Boden genutzt, zwischen dem schweren dunklen Schreibtisch und der grünledernen Sitzecke steht ein Bügelbrett als Ablage. Über der Tür ein Kreuz.

In den Bücherregalen sind alle Bände von Karl May aufgereiht, dessen größter Fan Mahr ist. Für ihn ist das keine kleine Spielerei, die er sich erlaubt. Mahr ist Mitglied der Karl-May-Gesellschaft und verehrt deren Namensgeber als einen „katholischen Protestanten“, wie er in seiner Selbstdarstellung für seine katholische Gemeinde schreibt: Als einen Dichter, der „mich früh in den Fragen des Weltfriedens, des Strafvollzuges, der Ökumene und der Toleranz der verschiedenen Religionen sensibilisiert hat“.

Seit er seinen Entschluss verkündet hat, das Bürgerschaftsmandat für seine Arbeit in der katholischen Kirche niederzulegen, tauchen in Mahrs Reden immer wieder religiöse Andeutungen und Zitate auf. Er wählt ein Beispiel aus der Bibel, wenn er einen menschlichen Konflikt beschreiben will. Vor wenigen Tagen noch hätte er mit einem politischen Erlebnis argumentiert.

Mahr aber wundert sich über das Erstaunen, das ihm dafür entgegenschlägt. Für ihn ist der Schritt in die katholische Kirche keiner in einen neuen, sondern eher zurück in einen alten Abschnitt seines Lebens. Er ist mit sechs Geschwistern großgeworden, in einer Familie, die er zur „katholischen Diaspora“ in Eimsbüttel zählt. Katholische Familie, Schule, Freunde. Sein erster Schritt in die Politik war die Mitgliedschaft bei „Pax Christi“, einer religiösen Organisation für den Frieden.

Hat man Mahr aber die vergangenen zehn Jahre als Politiker kennengelernt, erscheint sein Engagement für die katholische Kirche dennoch zunächst als Widerspruch. Er war auf der Liste der GAL in der Bürgerschaft, deren Fraktion seit Jahren von Frauen geleitet wird. Im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss Polizei (PUA) kämpfte Mahr Mitte der 90er Jahre als Politiker gegen blinden Gehorsam und dafür, dass PolizistInnen sich auch Vorgesetzten verweigern, wenn diese ihnen ein rechtswidriges Verhalten abverlangen.

In der katholischen Kirche aber haben allein Männer das Sagen, es gibt klare Hierarchien, und Gehorsam wird verlangt. Aber zum einen „gibt es keine heile Welt und auch keine heile Kirche“, sagt Mahr dazu. Und zum anderen seien die Themen der Kirche auch die seiner Politik, nämlich Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit. Wobei, sagt er und streicht sich kurz grinsend über den Bart, „ich wusste nicht, ob die Kirche überhaupt so einen aufmüpfigen Typen wie mich haben will“.

Aufmüpfig zu werden, überhaupt Widerworte zu geben, hat Mahr mühsam lernen müssen. Die ersten 20 Jahre seines Lebens bestand für ihn dafür schlicht kein Grund. In seiner katholischen Familie hat er eine sehr „behütete Kindheit“ erlebt. Mit der war es vorbei, als er Anfang der siebziger Jahre in den Polizeidienst kam. Er glaubte damals, zur Polizei zu gehen, um dort „Menschen zu helfen“, erklärt Mahr, und es klingt nicht naiv, sondern einfach enttäuscht. Denn sein Menschenbild wurde bei der Polizei erschüttert, „und zwar tief“.

Da waren andere Auszubildende, die in seinem Alter schon geschieden waren, undenkbar für den frisch Verheirateten. Es gab Festnahmen, bei denen ein Beschuldigter die Treppe herunter flog. Und Kollegen, die dazu kein Wort verloren. Seinen „Schritt ins Leben“ nennt Mahr diese Zeit. Es war auch der Schritt in einen inneren Zweispalt, den er schließlich dadurch löste, dass er in die Politik ging.

Morgens Polizeidienst, Nachmittags Bürgerschaft. So hat sein Leben in den vergangenen Jahren ausgesehen. Wie es sich angefühlt hat, nach einer Parlamentsdebatte über polizeiliche Ausschreitungen aufs Revier zu kommen? Mahr sagt, seine KollegInnen hätten ihm seine Politik nicht übel genommen. Innerhalb der Polizei war er sicher umstritten, in der eigenen Dienststelle aber nicht. Als Nestbeschmutzer hat er sich nicht gefühlt, auch nicht, als er im PUA Polizei maßgeblich an der Aufklärung von gewaltsamen Übergriffen von KollegInnen gegenüber Schwarzafrikanern beteiligt war.

Ein paar Drohanrufe hat er wohl bekommen, aber wichtiger war für ihn der Zuspruch von KollegInnen, dass der PUA wichtig sei. „Es ist nicht so, wie Innensenator Schill glauben machen will, dass die gesamte Polizei sich verraten gefühlt hat.“

Einmal nur hat er eine Situation erlebt, in der man ihm in der Dienststelle das politische Engagement übel nahm. Das war, als er sich während der schweren Auseinandersetzungen um die Hafenstraße 1987 in einer Zeitungsanzeige für eine politische Lösung ausgesprochen hatte. Erst hätten seine Kollegen das Gespräch mit ihm gemieden, und als er es dann selber suchte, ihn mit viel Unverständnis konfrontiert. „Ich will einfach, dass wir das friedlich über die Bühne bringen“, habe er daraufhin erklärt. Die anderen hätten seine Meinung nicht geteilt, aber akzeptiert. „Feindbilder“, sagt Mahr, „gibt es auf beiden Seiten.“

Als Politiker ist Mahr oft dadurch aufgefallen, dass er die Ruhe behalten hat. Selbst in hitzigen Debatten in der Bürgerschaft hat er versucht, Polemik mit Sachlichkeit zu erwidern. In den vergangenen eineinhalb Jahren wurde ihm das oft schwer gemacht. Vieles von dem, was er in der rot-grünen Regierungszeit mit durchgekämpft hatte, hat der rechte Senat wieder rückgängig gemacht, wichtigstes Beispiel: Die Polizeikommission, die infolge des PUA eingerichtet wurde, ist inzwischen aufgelöst. Und Innensenator Ronald Schill regt ihn schon auf, natürlich. „In meiner Ausbildung habe ich gelernt, dass Vorgesetzte den übrigen Polizisten ein Vorbild sein sollen, und der oberste Vorgesetzte benimmt sich wie ...“ hier erspart er sich lieber eine nähere Bezeichnung.

Aber dennoch, auch dem gewinnt Mahr noch etwas Positives ab: „Vielleicht braucht Hamburg diese Erfahrung. Wenn so jemand 20 Prozent der Stimmen bekommt, ist irgendetwas nicht richtig in der Stadt.“ Und infolge des PUA seien innerhalb der Polizei Weichen gestellt, „an denen man nicht mehr vorbeikommt“. Erkenntnisse aus zwei Jahren Aufklärungsarbeit seien in die Polizeiausbildung eingeflossen. Und außerdem, hier erlaubt sich Mahr einen kleinen Anflug von Triumph, spricht Schill immer noch vom „angeblichen Polizeiskandal“. Der müsse wohl immer noch gegen etwas ankämpfen, sagt Mahr und grinst.

Nicht nur die Widersprüche seines eigenen Lebens, auch die in der Politik haben ihn gelehrt, kompromissbereit zu sein. Die eigene rot-grüne Regierungszeit war von Kompromissen geprägt, schon die Koalition einzugehen setzte die Bereitschaft voraus, von eigenen Ideen immer wieder abzurücken. Eigentlich ist Mahr für die Entkriminalisierung von Drogendelikten, und doch hat er vier Jahre lang das „Handlungskonzept St. Georg“ mit all seiner Repression mitgetragen. „Sonst hätte es die Koalition nicht gegeben“, erklärt er.

Er hat aber auch erlebt, dass andere die Kompromissbereitschaft für ihre Zwecke ausgenutzt haben. Vor allem in einer Situation, die er heute als seinen größten Fehler bezeichnet: Die Entscheidung, in Hamburg Brechmittel gegen mutmaßliche Drogendealer einzusetzen. Der damalige Innensenator Olaf Scholz (SPD), sagt er, hatte im Sommer 2001 der GAL die Pistole auf die Brust gesetzt. „Im Nachhinein glaube ich, er hätte die Koalition nicht platzen lassen“, sagt Mahr. Damals aber war er überzeugt, diesen Schritt mitgehen zu müssen, um „überhaupt noch etwas Grünes in der Drogenpolitik zu retten“.

Schockiert hat ihn, später von grünen Mitgliedern zu hören, dass sie erst nach seinem Votum den Brechmitteleinsätzen zugestimmt haben, „da habe ich meinen Einfluss in der GAL unterschätzt“ – obwohl er den Grünen bis heute nicht angehört: Mahr war und ist parteilos. Die GAL hätte den Konflikt mit der SPD damals aushalten müssen, findet er heute. Stattdessen sei seine Fraktion „in die Falle gelaufen“.

Heute bedauert er auch, in der Koalition mit der SPD einen Kompromiss auf der anderen Seite eingegangen zu sein – und den früheren FraktionskollegInnen, die während des Kosovo-Krieges den Regenbogen gegründet hatten, in der Bürgerschaft den Applaus verweigert zu haben. Für die SPD haben die GAL-Abgeordneten geklatscht und nicht für die Regenbogenleute, die im Grunde seine eigenen Positionen vertreten haben, in der Abschiebepolitik zum Beispiel.

Eine „menschliche Schwäche“ sei das gewesen, räumt er auf Nachfrage ein. Den Regenbogen auflaufen zu lassen, sei aber keine politische Entscheidung, sondern Ausdruck tiefer Enttäuschung gewesen. Er hatte zuvor auf die Abtrünnigen eingeredet, in der Fraktion zu bleiben.

Natürlich ist Mahr auch ein bisschen wehmütig über den Abschied aus seiner Fraktion. Als Grund nennt er aber nicht die Politik, die ihm fehlen wird. Oder die Sorge, dass seine Herzensthemen auf der Strecke bleiben. Auf die Frage, was er vermissen wird, nennt er spontan seine Mitarbeiterin, mit der er sich sieben Jahre lang das Büro geteilt hat. Er wird sie weiterhin treffen, aber nicht mehr jeden Tag. Auch das ist ein Kompromiss, zu dem er sich durchgerungen hat.