„Auf der Straße sind alle allein“

Neco Celik & Erhan Emre

Erhan Emre: „Man rennt, man nimmt, man wirft. Leider gibt es da eine Ansteckungsgefahr“ Neco Celik: „Die Mädchen sind genauso machohaft wie die Jungs. Sie ziehen gemeinsam durch die Straßen“

Sie sind auf den Straßen von Kreuzberg aufgewachsen – und in der Naunynritze, dem Jugendzentrum in der Naunynstraße. Heute machen sie Film: Neco Celik, 31, als Regisseur, Erhan Emre, 24, als Schauspieler. Gemeinsam haben sie die Filmproduktion „36pictures“ gegründet. Erhan Emre ist derzeit neben Daniel Brühl in dem Boxerfilm „Elefantenherz“ in den Kinos zu sehen. In der Naunynritze sieht man die zwei immer noch. Neco ist dort Jugendarbeiter. Sie sehen, wie die Kids heute aufwachsen, und sie sehen die neuen Probleme der Jugendlichen. Von diesen Erfahrungen erzählt auch ihr Film „Alltag“. Die ARD sendet ihn am 5. Juni um 23 Uhr

Interview JÖRN KABISCH
und SUSANNE LANG

taz: Erhan, warst du dabei beim 1. Mai?

Erhan Emre: Ja, vor allem, weil dieser 1. Mai eigentlich friedlicher ablaufen sollte. Auf dem Mariannenplatz hatte auch die Naunynritze zwei Stände aufgebaut. Außerdem sollte Necos Film „Alltag“ gezeigt werden. Das wäre ein Highlight gewesen am 1. Mai – ich spiele die Hauptrolle. Aber das war wohl ein bisschen blauäugig …

Wart ihr sauer, als die Randale begann?

Erhan: Ziemlich. Obwohl, es wäre natürlich ein Bonbon gewesen, erst den Film zu sehen und danach die Krawalle.

Ihr habt gesehen, wie es sich entwickelte?

Erhan: Einer fängt an, alle machen mit – das ist eine Kettenreaktion. Und eigentlich warten auch alle darauf. Das ist schade, dass es einmal im Jahr zu diesem Krawalltourismus kommt. Der politische Hintergrund ist auch nicht mehr da. Es geht nur noch darum, einmal im Jahr die Sau rauszulassen.

Hast du mal richtig mitgemischt beim 1. Mai?

Steine geschmissen? Klar habe ich mal einen Stein geschmissen. (lacht)

Aus welchem Gefühl heraus machen das die Jugendlichen?

Einfach so, im Affekt. Man rennt, man nimmt, man wirft. Leider gibt es da eine Ansteckungsgefahr. Man geht mit der Masse mit.

Kennt ihr die Krawallmacher?

Erhan: Nicht alle.

Hat sich die Stimmung unter den Kids, auch im Jugendzentrum Naunynritze, verändert? Aggressiver oder aufgeladener?

Erhan: Ja, ich glaube als wir in deren Alter waren, hat man mehr getan für einander. Es gab Reisen oder Events, und man war aktiver. Die Jungs jetzt denken nur bis zum Wochenende, und das war’s.

Was, glaubt ihr, sollte man machen?

Neco Celik: Ausgangssperre. Für diesen Tag, für eine bestimmte Gruppe.

Erhan: Ausgangssperre – um Gottes willen!

Ist das MyFest wenigstens im Ansatz gelungen?

Erhan: Ja, bis acht Uhr war es wunderbar. Und letztes Jahr war es vier Uhr, als die Randale begann.

Neco: Der Fehler war, dass man bestimmte Straßenzüge nicht eingeschlossen hat. Kreuzberg ist groß.

Wachsen die Kids heute anders auf als ihr? Die Ausländerbeauftragte zum Beispiel sagt, die Eltern kämen nicht mehr zurecht mit den Kindern, die Krawall gemacht haben.

Neco: Das sind stinknormale Kinder, nicht schlimmer als andere Kinder woanders.

Wollt Ihr die Kids nicht stärker verteidigen? Sie werden jetzt kriminalisiert als die Übeltäter des 1. Mai.

Erhan: Da muss man aufpassen. Ich denke aber, das hängt auch viel mit der journalistischen Arbeit zusammen. Ob man einfach hineininterpretiert oder auch hinter den Stein guckt.

Was haltet ihr von dem Vorschlag, die Randalierer anonym über ihre Motive zu befragen?

Erhan: Wie will man das denn anstellen? Man kommt doch nicht an die Jungs ran, denen ist das egal.

Neco: Die haben andere Probleme: in der Schule, zu Hause, auf der Straße. Am 1. Mai ticken sie aus und werfen Steine, und am nächsten Tag ist alles wieder sauber. Warum soll das ein Problem sein?

Erzählt mal von den Kids auf der Straße. Ihr macht darüber auch Filme. Sind das Gangs?

Erhan: Das sind Freundschaften. Man wächst gemeinsam auf, geht gemeinsam zur Grundschule zum Fußballspielen oder Boxen. Gang ist ein zu großes Wort dafür, es ist ein Zusammenhalten.

Neco: Wenn man sie so sieht, hat das natürlich die Form einer Gang. Aber dieses amerikanische Wort Gang – ich würde es lieber auf Deutsch sagen: Bande, Clique.

Die Naunynritze war mal Anlaufstelle für die „36-Boys“, eine berüchtigte Bande. Wer war das?

Erhan: Er hier. (lacht)

Ihr wart doch dabei, oder?

Erhan: Ja.

Neco: Wir haben ein paar Schlägereien gemacht, um ein paar Mädels zu imponieren. Die Jüngeren haben dann die 36-Juniors gegründet und das ziemlich ernst genommen, Gangs aus Filmen nachgemacht.

Heute gibt es das nicht mehr?

Erhan: Dass man Mädels imponieren will? Die machen ja mit heute.

Es heißt aber, es waren nur Jungs am 1. Mai.

Neco: Ich kann es nicht bezeugen, nur dass sie genauso hart sind wie die Jungs. Es ist erstaunlich, dass die Abgrenzungen zwischen türkischen Mädchen und Jungs aufgehoben sind.

Türkische Jungs sind keine Machos mehr?

Erhan: Vor einigen Jahren war das viel extremer.

Neco: Die Mädchen sind genauso machohaft. Sie ziehen heute gemeinsam mit den Jungs durch die Straßen. In meiner Zeit hatten die Mädels überhaupt keine Chance.

Warum hat sich das verändert? Gibt es keine traditionelle türkische Erziehung mehr?

Erhan: Die Eltern werden jünger. Jeder hat ja ein Brett vorm Kopf, und bei denen ist es einfach entfernter.

Was haben die Kids heute für Träume im Kopf? Wollen sie hier raus?

Erhan: Dazu muss man in deren Kopf rein, keine Ahnung.

Wie war das bei dir?

Erhan: Ich wollte nie raus. Ich fühle mich absolut wohl in meinem Kiez. Aber ich wollte mehr als nur bis zum Wochenende denken. Mein absoluter Vorteil war, dass ich immer mit Älteren zusammen war und irgendwann für mich entdeckt habe, dass es auch anders geht. Ich wusste ziemlich früh, was ich wollte: Filme machen.

Welchen Beruf hatte sich dein Vater für dich vorgestellt?

Erhan: Anwalt oder Arzt. Das ist ganz klassisch. Mein Vater ist siebzig, gehört zu der ersten Generation der Zuwanderer, die mit der Vorstellung gekommen ist, dass die Kinder in die Schule gehen, studieren und irgendwann Ärzte werden.

Findet er es denn heute okay, dass du Schauspieler bist?

Erhan: Selbstverständlich. Ich studiere jetzt Produktion an der DFFB. Aber mein Bruder ist am ersten Tag zur Schule gekommen und hat das kontrolliert. Er kam ins Sekretariat und fragte, ob dieser junge Mann hier studiere.

Was wollen die Eltern heute von ihren Kindern?

Erhan: Meine Schwester will von ihrer Tochter nichts anderes, als dass sie zur Schule geht und ehrlich ist. Mein Bruder möchte von seinem Sohn nichts anderes. Aber Neco hat selbst drei Kinder, er kann das besser beantworten.

Neco: Ich will, dass meine Tochter in der Schule aufhört zu träumen.

Wie alt ist deine Tochter?

Neco: Acht.

Was machst du, wenn deine Tochter in drei Jahren am 1. Mai Steine schmeißt?

Neco: Dasselbe wie ein Vater im Wedding, der seinen Sohn am Ohr gepackt und zur Polizei gebracht hat.

Erhan: Konsequent.

Neco: Niemand hat das Recht, Steine zu schmeißen.

Das machen aber nicht viele Eltern?

Neco: Das Problem ist, ob sie es herausbekommen. Viele Eltern wissen doch gar nicht, was ihre Kinder auf der Straße tun.

Du bist auf der Straße aufgewachsen. Jetzt wachsen deine Kinder auf der Straße auf. Ist das okay?

Neco: Ja, wenn sie das positiv kanalisieren. Es gibt viele Sachen, die man auf der Straße lernen kann … Es stärkt das Selbstbewusstsein. Man wird aufgeweckter. Die negativen Seiten kommen, wenn du falsche Freunde hast …

Erhan: … oder wenn du zu viele Freunde hast. Je mehr Köpfe irgendwo sitzen, desto mehr Scheiße kommt raus.

Neco: Aber erzähl das mal einem 14-Jährigen, der zu einer Clique gehören möchte. Wenn er nicht dazugehört, ist er ein Außenseiter.

Was meint ihr mit „positiv kanalisieren“? Kann das HipHop sein, jemand wie Cool Savas?

Neco: Zum Beispiel. Er ist ein Vorbild. Und je härter seine Texte sind, umso besser für die Jugendlichen, weil er sich was traut. Darum geht es.

Seid ihr auch Vorbilder?

Erhan: Nein, man sagt nicht, ich bin ein Vorbild. Es kommt darauf an, wie einen die Leute sehen. Ich bekomme den Respekt. Die Jungs wollen sehen, wie das so ist – beim Film. Und sie sehen, die Welt ist größer als Kottbusser Tor, Heinrichplatz, Oranienstraße.

Welche Rolle spielt Gewalt?

Erhan: Darüber muss er reden. Er ist der Sozialpädagoge.

Aber Erhan, du hast mal geboxt.

Erhan: Eine Zeit lang im Verein. Aber ich war nicht gut.

Und auf der Straße?

Erhan: Klar, auf der Straße war ich der Beste. (lacht)

Wie weit bist du damit gekommen?

Erhan: Nicht weiter als Schattenboxen.

Neco: Gewalt ist allgegenwärtig. Und einige sind zum Beispiel klug genug, zu sagen: Ich trage lieber kein Messer. Denn es kann ja sein, dass ich in eine verkehrte Situation komme. Dann bringe ich mich selbst in Gefahr. Aber das Ausschlaggebende ist, dass sie auf sich selber gestellt sind. Alle. Sie können sich nicht auf ihre Freunde verlassen.

Also doch nichts mit Zusammenhalt auf der Straße?

Neco: Es sind oberflächlichere Freundschaften. Natürlich gibt es auch tiefer gehende Freundschaften zwischen den Jugendlichen heute. Aber so wie damals, Ende der Achtziger, dass man immer zusammenhing und alles füreinander gegeben hätte, das existiert nicht mehr. Ich vermute, wenn es heute eine Schlägerei mit, sagen wir, dreißig Jugendlichen auf der einen Seite gibt, dann werden zwanzig weglaufen und zehn halten zusammen.

Und früher wären nur zehn weggelaufen?

Erhan: Bei uns ist keiner weggelaufen.

Neco: Du musst ja auch wieder zurückkommen. Dann gucken deine Freunde dich an und sagen: „Bist du weggelaufen, oder was …?“

Heute soll das anders sein.

Neco: Klar, die suchen sich einfach eine andere Clique.

Verklärt ihr da nicht die alten Zeiten?

Erhan: Nein, wir können es doch hier im Viertel beobachten. Wir wohnen hier. Und ich kann bezeugen, dass die Freundschaften auch materieller geworden sind. Heute kommt es darauf an, wer welche Schuhe, wer welches Handy hat.

Neco: Ich sehe das eindeutig, wenn ich mit Jugendlichen einzeln rede. Auf die Frage: „Warum machst du das und warum macht das dein Freund?“ sagen sie: „Was geht der mich denn an? Is mir doch egal. Geh doch zu ihm und frag ihn selber.“

Erhan: Jeder versucht, allein voranzukommen und sich zum Wochenende alles zurechtzubiegen.