Gabor Kiraly macht den Buhmann

Beim 3:6 gegen Bayern München kassiert Hertha fünf Gegentore in 25 Minuten und muss wieder um einen Uefa-Cup-Platz bangen. Alle ringen um Erklärungen, selbst Bayer-Trainer Ottmar Hitzfeld. Dann nimmt Herthas Torwart alle Schuld auf sich

von ANDREAS RÜTTENAUER

Hertha-Manager Dieter Hoeneß ist ein Mann, der gerne Auskunft gibt. Auch nach der verheerenden Niederlage seiner Mannschaft stellte er sich bereitwillig den Fragen der versammelten Pressevertreter. Doch zu sagen hatte er nichts. Er war ratlos. „So etwas habe ich noch nie erlebt, deshalb kann ich auch keine Gründe dafür nennen.“ 3:6 hatten die Berliner gegen den neuen deutschen Meister verloren, was bemerkenswert genug ist, doch wie die Niederlage zustande kam, dürfte durchaus ohne Beispiel sein. Bis zur 19. Minute führte Hertha mit 1:0, zur Pause stand es 5:1 für die Gäste. Auch die meisten Berliner Spieler konnten sich nicht erklären, wie es passieren konnte, dass der FC Bayern die Hertha innerhalb von 25 Minuten in Grund und Boden gespielt hatte. „Man steht auf dem Platz, sieht, was geschieht, und kann es dennoch nicht ändern“, beschrieb Arne Friedrich sein Gefühl. „Das kann schon sein, dass es nur eine psychologische Erklärung dafür gibt“, meinte der Nationalspieler noch. Ein Satz, der die Ratlosigkeit, die an diesem Nachmittag herrschte, nur noch unterstrich.

Alles hatte so gut angefangen. Hoch motiviert gingen die Berliner in das Spiel, hatten gleich in der ersten Minute die erste Großchance, als Bart Goor frei vor Oliver Kahn vergab. Die Führung durch ein Eigentor von Michael Ballack (5. Minute) nach einem Freistoß von Marcelinho war Ausdruck der Berliner Überlegenheit. Die schien die Gastgeber noch mehr zu beflügeln. Sie spielten weiter aggressiv nach vorne. Zu aggressiv. Beinahe wirkten sie übermotiviert. Fast jeder Zweikampf endete mit einem Freistoßpfiff für die Bayern. Die ließen sich die harte Gangart der Berliner nicht gefallen, schalteten kurz in den Meistergang und erledigten den Auftrag ihres Trainers Ottmar Hitzfeld: Erfolgserlebnisse einheimsen als Motivation für das anstehende Pokalfinale. Der Bayerncoach war am Ende natürlich insgesamt zufrieden, auf seine eigene Art aber auch ratlos. Auf die Frage, was man denn in der Pause zu einer Mannschaft sage, die mit 5:1 in Führung liegt, antwortete er zunächst mit den für ihn typischen sachlichen Vokabeln wie „Analyse“, „Zweikampfverhalten“ und „Konzentration“, um dann zuzugeben, dass eine Ansprache in dieser auch für ihn seltenen Situation schwer sei.

Sein Berliner Kollege wirkte völlig hilflos bei der Spielanalyse. Huub Stevens versuchte sich mit Plattitüden aus der Affäre zu ziehen. Sätze wie: „Ich sage immer, die Verteidigung beginnt bei den Stürmern“, mögen zwar dazu beitragen, dass man ihn später vielleicht einmal als Sepp Herberger des 21. Jahrhunderts bezeichnet, geben aber doch nur das an diesem Tag vorherrschende Gefühl wider: Ratlosigkeit. Nur einer hatte eine Erklärung für die Vorgänge auf dem Rasen. Hertha-Keeper Gabor Kiraly übernahm nach dem Spiel die Verantwortung für alle sechs Gegentore. Mit seiner Leistung habe er die ganze Mannschaft und die Fans „verarscht“. Der Tod eines nahen Freundes, von dem er am Freitag erfahren hatte, habe ihn wohl noch zu sehr beschäftigt. Die hämischen Reaktionen der Fans, die ihm lauthals zujubelten, wenn er nur eine Rückgabe aufnahm, könne er verstehen.

Noch ein anderer Spieler hatte mit den Reaktionen des Publikums zu kämpfen. Immer wenn Sebastian Deisler, der erstmals in dieser Saison von Beginn an spielte, am Ball war, erhob sich ein gellendes Pfeifkonzert im Olympiastadion. Der Exberliner hatte nach seinen Vorwürfen an das Hertha-Management, man habe ihn seinerzeit gezwungen, den bereits feststehenden Wechsel zu den Bayern über Wochen zu verheimlichen, sicher keinen freundlichen Empfang erwartet. Er dürfte allerdings wahrgenommen haben, dass die Pfiffe, mit denen die Fans die eigene Mannschaft in die Pause verabschiedeten, um ein Vielfaches lauter waren als die Unmutsäußerungen gegen seine Person. Mit zwei Torvorlagen, eine davon eine schier unglaubliche Flanke Beckhamschen Formats, brachte er sich zudem gut ins Spiel ein. Während die Berliner lange nach dem Abpfiff noch immer ratlos den Kopf schüttelten, meinte er: „Es war ein schönes Spiel.“