Die Eleganz des Abfallprodukts

Ein Archiv der postmodernen Urbanisierung: Joachim Brohms fotografische Langzeitstudie „Areal“ dokumentiert ein Industriegebiet im Norden von München, das seinen Status als Standort verlor. Dabei geht es nicht um Deutung, sondern um schiere Bildlichkeit, um visuellen Reichtum und um Farbe

von BRIGITTE WERNEBURG

Als Abfallprodukt eines Sanierungsfalls, so ließe sich die Genese des außergewöhnlichen fotografischen Langzeitprojekts von Joachim Brohm beschreiben, das nun nach seinem Abschluss als Ausstellung durch die Schweiz und Deutschland reist. Der Katalog, der die Ausstellung begleitet, ist einer der bestechendsten Bildbände der letzten Zeit; das ganze Projekt ein Glücksfall, dessen Zustandekommen sich in der Danksagung des Autors erschließt. Es nahm seinen Anfang mit einer jener Immobilienspekulationen, die dem Auszug der Industrie aus den Städten folgt. Im konkreten Fall gab die Firma Raab Karcher ihren Standort im Münchner Norden auf. Das Areal sollte zur „Parkstadt Schwabing“ werden, und Helmut Röschinger, Eigentümer der Bauträgergesellschaft Argenta, beauftragte Joachim Brohm, diesen Prozess fotografisch zu begleiten. Die Idee des Vorhabens stammte vom Münchner Galeristen Mathias Kampl, der beide Parteien zusammenbrachte. Auch so kommen manchmal maßgebliche Kunstprojekte auf den Weg.

Joachim Brohm studiert Anfang der Achtzigerjahre an der Universität-Gesamthochschule Essen. In seine Studienzeit fällt der Ruf von Angela Neuke als Professorin für „Bildjournalistik“ an die Hochschule. Mit ihrer Lehrtätigkeit kommen endlich die bereits installierten, modernen Entwicklermaschinen für den Farbnegativprozess zum Einsatz, dessen matte, verwaschene Farbtöne eine neue deutsche Farbfotografie prägen werden. Dieser Aufbruch gibt Joachim Brohm entscheidende Impulse für seine Arbeit. In seinen Motiven sucht er schon damals die Randgebiete auf und konzentriert sich auf „geringe Ansichten von geringen Dingen“, wie der Fotokritiker Ulf Erdmann Ziegler schreibt. Beruflich aber geht sein Weg nicht an die Peripherie (auch wenn es zunächst so scheinen mag), sondern direkt ins Zentrum: 1993 wird Joachim Brohm als Professor an die Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig berufen.

Nicht zuletzt diese Position erlaubt es ihm jedes Jahr, von 1992 bis 2002, das Industriegebiet im Norden von München aufzusuchen, mit der Kleinbildkamera, ohne Blitz und Stativ, mit einem Normalobjektiv, an den jedermann zugänglichen Orten. Bis Ende der Achtzigerjahre hatte das Areal als Benzin- und Öllager sowie als Umschlagplatz für Brennstoffe, Tanktechnologie, Baustoffe und Düngemittel gedient. Nach dem Auszug von Raab Karcher besteht es zunächst in einer Mischung von alter und von neuer, temporärer Nutzung fort. Auf dem typischen Industriegelände mit Gleisanbindung und Zufahrtswegen finden sich noch immer intakte Strukturen, aber auch viel Ungenutztes, Garagen, Werkstätten und die „International Gospel Church“.

Mit der Geduld des Botanikers und der Neugierde des Flaneurs durchforstet Brohm zu jeder Jahreszeit das Gelände, das einerseits Wüstenei, andererseits Schatzkammer ist, das leer geräumte, konturlose Flächen zeigt und dann wieder die denkbar dichtesten Material- und Objektansammlungen aufweist, einen Reichtum an Formen und Farben. Ohne weiteres gibt Joachim Brohms Bilderatlas zu erkennen, dass das Interesse des Fotografen nicht die soziologische oder ökonomische Tiefenbohrung im städtischen Gewebe ist. Die Menschen, die planen, kaufen, bauen, aus- und einziehen, kommen in seinen Bildern selten vor. Ihn fasziniert das Panorama der Dinge und Zeichen, die von rätselhafter Präsenz, etwa beim „International Miracle Healing Center“, aber auch von Abwesenheit zeugen und die es dem Betrachter anheim stellen, die dokumentierten Befunde weiter zu erschließen. Brohm sucht über die Jahre immer wieder die gleichen Standorte auf und erfüllt die Pflicht des Dokumentaristen, den Fortgang der Dinge im Bild festzuhalten. Trotzdem haftet den rund zweihundert Fotografien seines Bildbands wenig Dokumentarisches an. Denn die Bildserie, die der chronologisch angeordnete Band, im Ganzen gesehen, natürlich ist, löst sich bei genauer Betrachtung schnell in eigenständige Einzelbilder auf, die bei aller konkreten Detailfülle nahe an der Abstraktion scheinen. Schließlich kommen die Gegenstände, die im Raum teils höchst komplex hintereinander gestaffelt sind, bei Brohm auffällig zweidimensional in der Bildfläche über- und nebeneinander zu lagern. Tatsächlich dominiert der Eindruck eines All Over, von dem Urs Stahel in seinem Katalogtext spricht, das den perspektivischen Halt aufhebt und das Verhältnis von Bildebene zu Bildtiefe ins Schweben bringt.

Wahrscheinlich nötigt ihn der Akzent, den Brohm auf die schiere Bildlichkeit legt, zum Querformat, das den Band eindeutig beherrscht. Seine Cadrierung privilegiert deutlich den Blick, nicht das Objekt; er deutet weniger die Dinge aus als eine Empfindung, die vielleicht nur das Staunen über den visuellen Reichtum des Areals ist. Es liegt tatsächlich ein merkwürdiges Schweben in den Bildern, die oft genau das im Sucher haben, was sich auftürmt und den Weg versperrt: die Materialhaufen, das zusammengekarrte, gesplitterte Holz, das aufgeschichtet daliegt wie Caspar David Friedrichs Eismeerschollen; das makellose Sanitärporzellan, das darauf wartete, abgeholt zu werden, der schwarze Berg aus Autoreifen, die Absperrgitter, Gerüststangen, Drahtzäune und Balkongittern. Der leichte, elegante und beiläufige Zug, der Brohms Fotografien charakterisiert, rührt wiederum vom Umgang mit der Farbe her, die trocken und luftig erscheint und nur selten, doch dann sehr gezielt eine hohe Sättigung erfährt. Diese Fotos finden sich gerne unter den Hochformaten, die wie zugespitzte Bildkeile in die epische Breite des Querformats geblockt scheinen.

An der Frage der Formate beweist sich im Übrigen die Sorgfalt, mit der der Band im Steidl Verlag hergestellt wurde. Jedes Foto steht in einem schmalen weißen Rahmen auf einer Seite, gleichgültig ob Hoch- oder Querformat. Dass kein Bild über den Falz läuft, ist beim Studieren des Buches, das man oft drehen muss, zwar etwas unbequem, beim Betrachten der Bilder freilich ein großer Gewinn.

Joachim Brohm: „Areal“. Steidl Verlag, Göttingen 2003, 264 Seiten, 206 Farbabbildungen, 35 €