Die Blicke der anderen

betr.: „Abtreibungen sind bewusst. Die Ärztin Marietta Kiehn hält die Beratungsangebote für Frauen, die ein behindertes Kind erwarten, für ausreichend“, taz vom 1. 12. 08

Das Interview mit Frau Kiehn zeigt wieder einmal, dass eine aus meiner Sicht wichtige Fragestellung vielfach bei der Beratung zur pränatalen Diagnostik außen vor bleibt: In was für einer Gesellschaft leben wir oder wollen wir leben? Wann ist Leben lebenswert, wann ein Mensch l(i)ebenswert?

Frauen oder Paare, die sich für ein Kind entscheiden, entscheiden sich nie für oder gegen Behinderung, die Frage stellt sich beim Kinderwunsch zumeist nicht. Erst bei anstehenden Untersuchungen kommen möglicherweise Fragen auf: Sehe ich mich in der Lage, über Leben oder Tod diese Kindes zu entscheiden? Kann, darf, will ich selektieren? Was passiert denn, wenn ich mich bewusst für ein behindertes Kind entscheide, also der Natur ihren Lauf lassen? Und wenn alle Untersuchungen ohne Befunde geblieben sind, gegen die ich mich hätte entscheiden können, und ich bekomme ein Kind mit einem seltenen Syndrom, auf das ich nicht getestet werden konnte – schuldlos, grundlos, als zufällige Genmutation? Dann kann das eine Aufgabe sein wie viele andere Aufgaben im Leben. Jeder Mensch kann und muss seine Aufgaben im Leben schultern, sie sind so vielfältig wie die Menschen selbst.

Was aber ist es, dass uns vor Behinderung so zurückschrecken lässt? Die Anstrengung sicher, auch die Hässlichkeit, dieses „andere“ Leben, die Kosten, die Mühsal – die Blicke der anderen? Die Angst, mein Kind könnte nicht glücklich werden? Ja, das ist eine berechtigte Frage, die auch wir als Eltern uns immer wieder stellen: Was kann ich dafür tun, dass mein Kind ein glückliches Leben führen kann? Was bedeutet das vor dem Hintergrund, dass das Empfinden von Glück ebenso vielfältig ist wie die Menschen. Natürlich wollen die allermeisten Menschen Kinder um ihrer selbst willen und nicht, um der eigenen Eitelkeit zu genügen. Und dennoch bringt mich mein behinderter Sohn zunächst einmal sehr weit weg von meinen Wünschen, die ich an ihn hatte oder hätte haben können – und ganz nah heran an seine Bedürfnisse und Wünsche, an sein Glück. Ein produktives Mitglied unserer kapitalistischen Gesellschaft zu werden, gehört vielleicht nicht dazu. Wir können uns glücklich schätzen, in einer Gesellschaft zu leben, in der es (noch?) keine ursächliche Verbindung von Mensch zu Produktivkraft gibt. Überall hingegen gibt es eine zur Nützlichkeit. Schön, daran alltäglich erinnert zu werden.

KAREN SCHULZ, Dortmund