Einladung nach Mörfelden

„Die Rollbahn“ rekonstruiert einen Fall von Zwangsarbeit. Eigentliches Thema des Films aber ist der Kampf um die Erinnerung und das zivile Engagement der Ermittler

Ganz Nazi-Deutschland war in den letzten Kriegsjahren von einem dichten Netz von Konzentrationslagern überzogen. Eins davon, eine „Außenstelle“, war in Walldorf bei Frankfurt errichtet worden. Hier wurde im Winter 1944 von 1.700 Auschwitz-Häftlingen, allesamt junge ungarische Mädchen, an der Starbahn Nr. 1 gebaut, von der die „Wunderwaffe“, der erste deutsche Düsenjäger, abheben sollte. Der Bau wurde wegen andauernder alliierter Luftangriffe eingestellt. Von den Sklavenarbeiterinnen, die in den letzten Kriegsmonaten nach Auschwitz oder Ravensbrück transportiert wurden, überlebten nur 200. 18 von ihnen folgten nach über 50 Jahren einer Einladung der Stadt Mörfelden-Walldorf.

Der Dokumentarfilm „Die Rollbahn“ von Malte Rauch, Bernhard Türcke und Eva Voosen rekonstruiert die Geschichte des KZ-Außenlagers Walldorf. Sein eigentliches Thema aber ist der Kampf um die Erinnerung. Die verschiedenen Stadien dieses Kampfes vom großen Schweigen der Nachkriegszeit bis hin zum schließlichen öffentlichen Eingedenken der Opfer werden ausschließlich am Beispiel Walldorfs abgehandelt. Keine großflächigen Erörterungen, keine Politikaster-Statements. Wir sehen die Protagonisten „vor Ort“ – Opfer, einige wenige der damaligen Zuschauer, involvierte Profiteure der Baufirma Züblin, die seinerzeit die von der SS gestellten Arbeitssklavinnen vernutzte – und schließlich: die Ermittler.

Es ist die Geschichte dieser „Ermittlung“, die den Dokumentarfilm schließlich zu so etwas wie einer optimistischen Tragödie werden lässt. Am Anfang, in den 70er-Jahren, waren es drei junge Kommunisten aus Mörfelden-Walldorf, die die verbliebene Spuren des KZ vor ihrer Haustür wieder entdeckten. Sie rannten gegen Beton an. Dann, zur Zeit der großen Auseinandersetzung um die Startbahn West, wuchs das Interesse an der Lokalgeschichte. Eine Stadthistorikerin, Cornelia Rühlig, wurde eingestellt, eine Geschichtswerkstatt nahm ihre Arbeit auf. Die Abiturklasse des Bertha-von-Suttner-Schule engagierte sich.

So beginnt „Geschichte von unten“. Es stimmt, der Film wird zur Feier dieses zivilen Engagements, er bewegt, rutscht aber nie ins Pathos der hohen Töne ab. Man spürt, dass den überlebenden Opfern Mitgefühl und Mit-Leiden der jungen Generation entgegenschlägt. Sie treffen auf Herzlichkeit und erwidern sie.

Aber die Ermittler wollen nicht nur Erinnerung, sondern Gerechtigkeit. Die Firma Züblin folgt dem Beispiel so vieler Unternehmen, die seinerzeit Zwangs- und Sklavenarbeiter beschäftigten. Sie weigert sich hartnäckig, sich bei den Überlebenden zu entschuldigen und sie zu entschädigen. Unter bundesweitem öffentlichem Druck tritt sie schließlich der Stiftungsinitiative bei – entschuldigen wird sie sich nie, denn sie muss, wie der Sprecher von Züblin sagt, den Spielregeln von Unternehmen folgen. Alles darüber hinaus ist Privatsache. Auch hier bauen die Dokumentaristen nicht die Kulissen eines Tribunals auf. Die Nachfragen, die endlos ausweichenden Antworten, sie werden nicht im Gestus selbstgefälliger moralischer Überlegenheit gezeigt. Desto stärker ist die Wirkung.

Gegen Ende der Doku wird vom Versprechen der Schülerinnen der Bertha-von-Suttner-Schule berichtet, dass auch künftig jede Abiturklasse die Pflege des Lehrpfads am ehemaligen KZ übernehmen wird. Ein ermutigender Schluss eines ermutigenden Films. CHRISTIAN SEMLER

„Die Rollbahn“ läuft heute in den Hackeschen Höfen und im Blow up an