Als sei man Eltern und Kind

Winterspaziergänge (Teil 5 und Schluss): Im März Rad fahren heißt sich mit angestrengtem Tunnelblick durch das finstere Reich der Notwendigkeit bewegen

Am deprimierendsten ist der Winter im März, wenn man meint, er müsse eigentlich am Ende sein. Man unterschätzt ihn ja oft, aber er ist wie ein angeschlagener Boxer, und man hat das Gefühl einer gewissen Ungleichzeitigkeit, eines ganz entschiedenen Einerseits-andererseits, wenn man einerseits rausguckt und andererseits rausgeht, denn das Mehr an Licht wird nicht von einem Weniger an Kälte begleitet.

So ist man ständig enttäuscht, schleppt sich energiearm durch die Gegend und würde am liebsten die ganze Zeit schlafen. Manche versuchen, der Winterendmattigkeit durch wilde Entschlossenheit zu entkommen. S. hatte zum Beispiel für sich entschieden, der Winter sei zu Ende, und heizte einfach nicht mehr.

Ich fuhr ständig Fahrrad. Je mehr ich Fahrrad fuhr, desto mehr ging es mir auf den Geist. Mir schien, als sei nichts so langweilig, öde und bescheuert wie Fahrradfahren, während ich Fahrrad fuhr. Vor allem nervt ja die alles beherrschende Zweckrationalität am Fahrradfahren: dass alles der schnellstmöglichen Erledigung der zu fahrenden Wegstrecke untergeordnet ist, dass das Blickfeld beim Fahrradfahren so eingeengt ist und der Blick zum Sklaven wird, der nur dazu dient, Rot und Grün zu unterscheiden sowie irgendwelchen Hindernissen auszuweichen. Dass man nichts von den Menschen und der Gegend mitbekommt, durch die man frierend fährt, dass das Fahrrad schabende Geräusche macht und aus Prinzip nicht gepflegt wird. Fahrrad fahrend steigert man sich in einen kindischen Hass aufs Fahrradfahren hinein. Man bewegt sich mit angestrengtem Tunnelblick durchs finstere Reich der Notwendigkeit, als Fußgänger könnte man dagegen Freiheit finden.

Oft ist es aber schwer, die innere Gelassenheit aufzubringen, die man fürs Spazierengehen braucht. Man muss sich zwingen, als sei man Kind und Eltern, trottet schweigend neben sich her, als sei es einem peinlich, sich selber zu begleiten, und hofft, dass das ewige Geschwätz im Kopf endlich aufhört. Das ist ja auch der Sinn von Kultur: dass man auf Dinge starrt, die der inneren Sprachproduktion Einhalt gebieten, sie in sinnvolle Bahnen lenken oder die Sätze zumindest übertönen, die sich im Gehirn ständig bilden.

Man nimmt eher unverbundene Bilder mit von solchen Spaziergängen: An der Haustür in der Heidenfeldstraße hängt ein Zettel, auf dem steht, dass jemand wegen Feuerstättenbeschau am nächsten Dienstag vorbeikomme. Der Stadtpark nahe der S-Bahn-Station Frankfurter Allee wirkt verträumt, und die nahe gelegenen Hinterhöfe der Häuser sehen aus wie früher mit Wäschestangen. Auf dem Boden liegt die Karte eines Allianz-Vertreters, und am Ringcenter II sitzt ein bettelnder Mann. Auf seinem Schild steht in ungeübter Handschrift etwas von einer „schlimmen Familientragödie“. Man schaut ihn an, zögert, greift zur Brieftasche, während man schon ein paar Meter weiter ist, findet kein Kleingeld und geht weiter mit ungutem Gefühl. Am Schleidenplatz in der Rigaer Straße sammelte eine kräftige Frau mit Helm handliche Pflastersteine. In Frank’s Relax Bar hängt ein Schild, auf dem steht, dass Harald Wolkenhaupt „mit den schönsten Song’s von Simon & Garfunkel, John Denver, Cat Stevens, Bob Dylan u. v. a.“ demnächst im „Eisbeineck“ auftreten wird. Im Bioladen kaufte ich ein Gläschen „Mexicana“-Brotaufstrich von „Bruno Fischer“, auf dem stand: „Gottes Liebe zu uns ist stark und mächtig und seine Treue hört niemals auf.“ So viel zu Rot-Grün. DETLEF KUHLBRODT