EU-ERWEITERUNG: VERHEUGEN HAT ALLEN GRUND ZUR VERBITTERUNG
: Verantwortungslose Regierungschefs

Erweiterungskommissar Günter Verheugen hat allen Grund, verbittert zu sein. Er hat die Aufgabe, die ihm Staats- und Regierungschefs beim Gipfel im Dezember 1999 in Helsinki übertrugen, mit Bravour bewältigt. Und muss nun ansehen, wie von Stockholm bis München die Boulevardpresse und manche Politiker ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen und Ängste und Vorurteile der Menschen bedienen, statt sie zu zerstreuen.

Verheugen hatte im September 2000 beim Außenministertreffen in Evian eine Volksabstimmung über die Erweiterung gefordert; damit das zweite große Projekt dieser europäischen Legislaturperiode in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zu einem ebensolchen Desaster wird wie die Einführung des Euro. Die Minister, allen voran Joschka Fischer, wiesen den Vorschlag empört zurück. Verheugen musste sich vorwerfen lassen, er versuche mit solchen Vorschlägen die Erweiterung zu verzögern. Schließlich müsse dafür in Deutschland zunächst die Verfassung geändert werden. Inzwischen sind dreieinhalb Jahre vergangen, ohne dass eine solche Verfassungsreform auch nur diskutiert worden wäre.

Verheugen hat die Zeit hingegen optimal genutzt. Die Kommission hat den Weg für die Erweiterung schnell und seriös bereitet, Verzögerungstaktik kann ihr niemand unterstellen. Die Regierungschefs aber, die den Stein ins Rollen brachten, drücken sich um ihre Verantwortung. Angesichts leerer Kassen, schleppender Konjunktur und hoher Arbeitslosenzahlen wäre es unbequem, Risiken und Chancen der Erweiterung beim Namen zu nennen. Viel einfacher ist es, die Vaterschaft zu leugnen und so lange abzutauchen, bis sich die Aufregung gelegt hat.

Sollten Boulevardmedien und Stammtischschwätzer demnächst zu dem Schluss kommen, dass alles halb so dramatisch verläuft wie befürchtet, ist immer noch Zeit genug, die schlichten Tatsachen ins Gedächtnis zu rufen: Die Staats- und Regierungschefs haben beschlossen, den Riss mitten durch Europa zu schließen, und dazu gab es keine vernünftige Alternative. DANIELA WEINGÄRTNER