Wo liegt Washington?

Ein Reporter der „New York Times“ hat offenbar über Jahre seine Berichte ganz oder teilweise gefälscht. An den angeblich besuchten Orten war Jayson Blair eher selten. Jetzt überführen ihn Spesenquittungen und Recherchen des eigenen Blattes

von STEFFEN GRIMBERG

Es macht stutzig, wenn eine Zeitung von Weltruf mit nur zartem Anflug von Selbstironie schreibt, in ihrer Zentralredaktion herrsche derzeit eine „Stimmung wie bei der langwierigen Totenwache für einen Verwandten, mit dem man sich auseinander gelebt hat“. Vor allem, wenn es sich um die New York Times (NYT) handelt. In ihrer gewichtigen Sonntagsausgabe hat sie die Ergebnisse einer akribischen Recherche in eigener Sache veröffentlicht, die so deutlich wie detailliert belegt: Ein Reporter des Blattes hat LeserInnen wie seine RedaktionskollegInnen systematisch und über Monate hinweg verladen. Zitate, Interviews, atmosphärisch dichte Beschreibungen übernahm Jayson Blair aus anderen Quellen – oder erfand sie gleich selbst.

Als so dynamisch wie schlampig beschreibt jetzt die NYT ihren 27-jährigen Exangestellten, der mit Beginn der internen Untersuchung Anfang Mai das Blatt verließ. Seit seiner Beförderung zum Reporter für die große Politik im Oktober 2002 hätten mindestens 36 seiner insgesamt 73 Artikel für „journalistische Probleme“ gesorgt, mehr als 600 Arikel aus der Zeit davor würden derzeit noch untersucht.

Negativ aufgefallen war der Afroamerikaner, der 1999 über ein Praktikum zur NYT kam, da allerdings längst: „Wir müssen verhindern, dass Jayson weiter für die Times schreibt. Jetzt sofort!“, hatte bereits im April 2002 Jonathan Landmann, Blairs ehemaliger Chef am für New York zuständigen Metropolitan Desk, verlangt. Doch diese und ähnliche Forderungen versandeten in den oberen Etagen der 375-köpfigen Redaktion. Chefredakteur Howell Raines hatte Blair noch Ende 2002 ausdrücklich für seine Berichterstattung über den „Todesschützen von Washington“ gelobt und bestreitet nun, trotz diverser Hinweise seinen Mitarbeiter wegen dessen ethnischer Herkunft besonders gefördert zu haben.

Erst vor gut drei Wochen, am 19. April 2003, hatte Blair wieder einen Beitrag auf der Titelseite. Er schilderte den Besuch bei zwei im Irakkrieg verwundeten Marines im zentralen Marinekrankenhaus in Bathesda, Maryland. Einer der Soldaten durchlebe in Albträumen seinen Kriegseinsatz, beschrieb Blair in einem emotional dichten Stück seinen Hospitalbesuch. Kleiner Schönheitsfehler: Nach Aussagen aller im Beitrag Zitierten war der Journalist nie in Bathesda, er hatte lediglich per Telefon recherchiert. Und: „Das meiste von dem Zeug habe ich nie gesagt“, erklärte jetzt einer der Marines dem Untersuchungsteam der NYT.

Es gibt diverse Beispiele dafür, dass Blair aus Orten schrieb, an denen er gar nicht war. Angeblich in Washington unterwegs, rechnete er Spesen für einen Starbucks-Kaffee ab. Datum und Firma stimmten – nicht aber der Ort: Die fragliche Starbucks-Filiale ist in Brooklyn, New York. „Blair hatte mittlerweile eine Taktik entwickelt, mit der er vorgab, im mittleren Westen unterwegs zu sein, während er sich tatsächlich die meiste Zeit in New York aufhielt“, so die NYT. Weil er aber vorab an die Fotos der angeblich besuchten Orte herankam, konnte er die Szenerie bis hin zur Farbe der Dachpfannen zumindest so detailgetreu beschreiben, dass sich seine teils durchaus misstrauischen Vorgesetzten damit zufrieden gaben. Seine Kollegen bewunderten in ihm ohnehin den umtriebigen Korrespondenten, der mehr am Flughafen zu finden war als zu Hause. Sein Exvorgesetzter, Charles Sturm, riet seinem scheinbar so arbeitswütigen Reporter sogar, kürzer zu treten: „Ich sagte ihm, er sollte sich besser ernähren als von Scotch, Zigaretten und Cheez Doodles aus dem Snackautomaten.“

Der Fall Tom Kummer

Spätestens hier sind die Parallelen zu Tom Kummer überdeutlich: Die Süddeutschen Zeitung musste im Mai 2000 berichten, dass der Star-Interviewer ihres Magazins diverse Promi-Gespräche frei erfunden oder aus anderswo veröffentlichten Versatzstücken zusammengebastelt hatte. Bei der NYT sind die Folgen für Chefredakteur Raines noch unklar. Vorstandschef Arthur Sulzberger, dessen Urgroßvater das berühmte NYT-Motto „All the News That’s Fit to Print“ erfand, sprach von einem „riesigen blauen Auge“ und der „Aufhebung des Vertrauens zwischen der Zeitung und ihren Lesern“.

Das Blatt selbst versucht sich – siehe oben – eher in gut gemeintem Galgenhumor: „Selbstkorrektur ist ein echter Gewinner, Selbstgeißelung dagegen ein sicherer Verlierer“, schrieb gestern der Rechtsaußen-Kolumnist der NYT, William Safire: „Lasst uns also ein methaphorisches kaltes Steak auf unser blaues Auge legen und aus diesem schrecklichen Beispiel lernen.“