Abschalten ist machbar

Der Fall Biblis A zeigt: Die Atomkraftwerke in Deutschland stellen ein unbeherrschbares Risiko dar. Dank rot-grünem Konsens besteht die Gefahr noch zwanzig Jahre lang

Beim schnellen Atomausstieg verpasst die Politik eine Chance nach deranderen

Atomkraftwerke sind immer für Überraschungen gut. Selten für positive. Ende April musste der hessische Umweltminister Wilhelm Dietzel (CDU) die Öffentlichkeit informieren, dass im AKW Biblis A das Notkühlsystem nicht der Betriebsgenehmigung entspricht. Der Fehler bestand seit dem Bau des Reaktors 1974, er blieb 29 Jahre lang unentdeckt. Wie konnte das passieren? Was wäre gewesen, wenn die Notkühlung des Reaktors bei einem schweren Störfall tatsächlich gebraucht worden wäre?

Der Fall Biblis A macht schlagartig wieder bewusst, welche Bedrohung der Betrieb von Atomkraftwerken bedeutet. SPD und Grüne müssen ihn deshalb als Signal verstehen: Die im Atomgesetz festgelegten Restlaufzeiten sind viel zu lang. Wenn die zuständigen Stellen die Überwachung der Reaktoren nicht im Griff haben, dürfen diese nicht noch einmal jahrzehntelang die Bevölkerung gefährden.

Denn Biblis A ist kein Einzelfall. Im Atomkraftwerk Brunsbüttel in Schleswig-Holstein kam im vergangenen Sommer ans Licht, dass die Notstromversorgung beim Kraftwerksbau vor 25 Jahren falsch verkabelt wurde. Die Folge: Bei bestimmten schweren Störfällen hätten nicht alle vorgeschriebenen Notsysteme des Reaktors mit Strom versorgt werden können.

Zwei entdeckte schwere Fehler in den letzten zwölf Monaten. Wie viele sind unerkannt? Das weiß niemand. In jedem Reaktor sind Kilometer und Kilometer Rohrleitungen und Kabel verlegt. Monteure machen Fehler, die die Kontrolleure übersehen.

Dafür sind Biblis A und Brunsbüttel die besten Beweise. Denn diese beiden Reaktoren gehörten seit Jahren zu den bestgeprüften in Deutschland. Vor allem Biblis A wurde sowohl von den CDU-geführten als auch von rot-grünen Landesregierungen immer wieder intensiv unter die Lupe genommen. Das atomkritische Öko-Institut Darmstadt kam als Gutachter ins Haus. Der TÜV Nord beschäftigte sich in den Neunzigerjahren sogar speziell mit den Ansaugöffnungen für die Notkühlung, die sich jetzt als zu klein herausgestellt haben. Deutsche Gründlichkeit?

Michael Sailer vom Öko-Institut in Darmstadt, heute Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission, bringt es auf den Punkt: In einem so komplexen System wie einem Atomkraftwerk könne man nicht alle Details auf die Übereinstimmung zwischen den Sicherheitsnachweisen und Bauplänen und der Betriebsrealität vergleichen.

Sailer hat Recht. Aber die Politik scheut die Konsequenzen. Deutschlands oberster amtlicher AKW-Experte sagt uns indirekt, dass wir auf einem nuklearen Pulverfass sitzen – und Rot-Grün empfiehlt als Vorsichtsmaßnahme für die nächsten 20 Jahre business as usual.

Denn so lange wird es noch dauern, bis das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz gehen wird. Und diese 20 Jahre werden noch riskanter als die vergangenen. Die Reaktoren werden immer älter, Verschleißerscheinungen nehmen zu. Denn in Atomkraftwerken sind die verbauten Materialien dauerhaft extrem hohen Anforderungen ausgesetzt: Sehr hohen Temperaturen, hohem Druck, harter Neutronenstrahlung. Auf Dauer hält das auch Spezialstahl nicht ohne Schäden aus. Die herrschende Theorie der Reaktorsicherheitsexperten sagt dazu: Solche Schäden werden entdeckt und behoben, bevor sie gefährlich werden. Alle Schäden? Fragen Sie Herrn Sailer von der Reaktorsicherheitskommission.

Verschärft wird die Situation durch den Kostendruck, dem die AKW-Betreiber im liberalisierten Strommarkt ausgesetzt sind. Um die Atomkraftwerke möglichst 365 Tage im Jahr für die Stromerzeugung am Netz zu halten, werden die Reaktoren immer seltener gewartet. Und warum sollte ein Betreiber in die Sicherheit eines AKWs investieren, wenn dieses ohnehin in ein paar Jahren abgeschaltet wird?

Das Sicherheitsproblem deutscher Atomkraftwerke wird mit jedem Tag drängender. Es ist durch Kontrollen, wie genau diese auch sein mögen, nicht zu lösen. Nur eine Maßnahme kann die Meiler wirklich sicher machen: das Abschalten. Aber vor jedem Schritt, der auch nur in diese Richtung geht, scheuen SPD und Grüne zurück.

Nach dem 11. September 2001 stellte die Bundesregierung nach einer Überpüfung fest, dass keins der deutschen Atomkraftwerke gegen den Absturz eines Jumbo-Jets ausgelegt ist. Die fünf ältesten Meiler, darunter Biblis A und Brunsbüttel, würden gerade einmal den Aufprall eines Sportflugzeuges aushalten. Unternommen wurde nichts.

Atomthemen sind Tabuthemen in Berlin. Der so genannte Energiekonsens zwischen Bundesregierung und Stromkonzernen hat bei den Umweltpolitikern von SPD und Grünen ein Denkverbot für jegliche atompolitische Initiative bewirkt.

Dabei bietet ihnen jeder neu entdeckte Fehler die Chance, sich davon zu emanzipieren und zur Politik zurückzukehren. Der Atomkonsens hat eben nicht, wie der Öffentlichkeit immer weisgemacht wird, alle politischen Möglichkeiten für einen schnelleren Ausstieg verbaut.

Ein Instrument, das immer noch zur Verfügung steht, ist der so genannte sicherheitsorientierte Vollzug des Atomgesetzes. Er ermöglicht den Umweltministerien der Länder und dem Bundesumweltministerium, ein Atomkraftwerk vom Netz zu nehmen, wenn der Betreiber dessen Sicherheit nicht gewährleisten kann. Aber hier verpasst die Politik eine Chance nach der anderen.

Die nächsten Jahre werden riskanter als die vergangenen. Die Reaktoren altern, der Verschleiß nimmt zu

Beispiel AKW Brunsbüttel: Nachdem im Februar 2002 entdeckt wurde, dass eine Wasserstoffexplosion ein Rohr auf mehreren Metern Länge zerfetzt hatte, wurde der Siedewasserreaktor stillgelegt. Und blieb es über ein Jahr lang, bis überprüft war, ob sich eine solche Explosion wiederholen könnte. Immerhin. Die Politik versäumte aber, auch die anderen fünf deutschen Siedewasserreaktoren für gründliche Prüfungen stillzulegen.

Beispiel dezentrale Zwischenlager: Bis Ende 2003 will Rot-Grün zwölf neue Zwischenlager an AKW-Standorten genehmigen. Eine gute Gelegenheit, ausführlich alle Sicherheitsfragen zu prüfen. Das dauert natürlich. Sollten die Abklingbecken für verbrauchte Brennstäbe in der Zwischenzeit voll werden, müsste das AKW eben stillgelegt werden. Aber die Politik hat den Betreibern Schnellverfahren versprochen.

Ein weiteres effektives Instrument wäre die Einrichtung eines unabhängigen Fonds, in dem die Betreiber die Gelder für den späteren Abriss der Reaktoren zurücklegen müssen. Bisher dürfen sie über diese so genannten Rückstellungen selbst verfügen. Sie haben die zig Milliarden Euro für sich Gewinn bringend angelegt und fahren dadurch lukrative Zusatzeinnahmen ein. Ohne diese würde sich bei vielen deutschen Reaktoren der Betrieb gar nicht mehr rechnen – die Konzerne würden sie voraussichtlich von sich aus stilllegen. Aber die Politik wagt sich an das Thema Rückstellungen nicht heran.

Die Beispiele zeigen: Abschalten ist machbar, trotz rot-grünem Atomkonsens. Und es ist notwendig, bevor politische Tabus tödliche Folgen haben.

SUSANNE OCHSE