Tiere sind für Kinder unverdächtige Mittler

Im Jugendhilfezentrum Raphaelshaus in Dormagen lernen Kinder, die Vernachlässigung und Gewalt erfahren haben, Angst zu überwinden und Vertrauen zu entwickeln – zunächst mal zu Kamelen, die zur Reittherapie eingesetzt werden

DORMAGEN taz ■ Der kalte Ostwind fegt über die Rheinaue, bringt Schneeflocken. Ja, gibt‘s das – dem zweifelnden Betrachter nähert sich eine kleine Karawane. Zwei Kinder thronen zwischen wackeligen Fellbergen. Stolz sehen sie aus. Die anderen beiden laufen nebenher, warten geduldig, bis sie an der Reihe sind. Lässig gehen Ninja und Dunja, die beiden Trampeltiere, in die Knie. So lässt es sich bequem auf- und absteigen. Ein kleiner Zirkus hatte sie im Säuglingsalter verkauft. Zunächst wurden sie noch mit der Flasche ernährt. Inzwischen teilen sie sich das Heu mit den Pferden aus der Dormagener Reittherapie.

Hans Scholten, Leiter des Jugendhilfezentrums Raphaelshaus, ist sehr froh, die beiden Kamele für die Kinder seiner Einrichtung erstanden zu haben. Auf dem weitläufigen Gelände der Einrichtung nördlich von Köln können so manche Abenteuer erlebt werden. Im Hochseilgarten wird in zehn Metern Höhe balanciert. „Für manchen türkischen Jugendlichen bricht eine Welt zusammen, wenn er da oben Angst bekommt, sieht, wie ein Mädchen vor ihm furchtlos über den schmalen Balken läuft und dieses Mädchen ihn dann auch noch mit einem Seil sichert, während er die ersten zitterigen Schritte versucht.“ Hans Scholten tut es um diese Welt des Jungen, die aus Körperverletzung, Diebstahl, Nötigung und Erpressung besteht, nicht leid.

Weitere Attraktionen warten auf die Kinder, die hier sind, weil sich Eltern, Lehrer und Jugendamt anders nicht zu helfen wissen. Eine Kletterwand ist in einer alten Scheune untergebracht. An der nahe gelegenen Erft erfahren Jugendliche, dass sie tatsächlich alle in einem Boot sitzen. Um durch die Stromschnellen zu kommen, bedarf es der Kraft aller, die im Kanadier hocken. Fahrradtouren des Raphaelshauses dauern schon mal sechs Wochen und führen nach Frankreich, Italien oder Polen

Besonders wichtig ist Scholten die Reittherapie. Kinder, die nur Gewalt, auch sexuelle Gewalt, Vernachlässigung und Entwertung erfahren haben, können nicht unbefangen Kontakt zu Erwachsenen aufnehmen. Tiere sind dann unverdächtige Mittler. Pferde rümpfen nicht die Nase, wenn Kinder sich einkoten, eher, wenn ein Mitarbeiter ein zu aufdringliches Rasierwasser benutzt. Und ein Kamel eignet sich mit seinem flauschigen Fell noch besser als lebender Teddy. Wenn es sitzt, trauen sich auch Kinder mit sehr vielen und tiefen Schnitten auf der Seele, mit diesem zotteligen Gebirge zu kuscheln.

Der Ritt auf einem Kamel ist dann ein Abenteuer. Enrico ist 13 Jahre alt. Früher hat er Spritztouren mit geklauten Autos unternommen. Damals hatte er nie Angst. Jetzt, zwischen den Höckern von Dunja eingeklemmt, fühlt sich alles wackelig und weich an. „Es war cool, aber ich hatte auch etwas Angst.“ Dies ist ein erster wichtiger Schritt. Wenn Kinder in einem geschützten Rahmen ihre Angst zulassen können, bewahrt diese sie vor den gewohnten Katastrophen. Kein schönes, aber doch ein wertvolles Gefühl, das Kinder, die in einer Welt voller Horror groß geworden sind, mühsam lernen müssen. LUTZ DEBUS