Ökonomisch erfahren, in Debatten erprobt

Haitis neuer Premier Latortue ist für den Karibikstaat so etwas wie Sabine Christiansen und Sandra Maischberger

Wer an die Spitze der Regierung des ärmsten Landes der westlichen Welt tritt, sollte etwas von den Bedingungen verstehen, die Armut und Reichtum produzieren. Unter dieser Prämisse ist Gérard Latortue als neuer Premierminister Haitis sicher eine gute Wahl. Als 36-Jähriger gründete der in Gonaïves geborene Ökonom 1961 das Institut für Höhere Wirtschafts- und Handelsstudien in Port-au-Prince. Es war, sagt Latortue, die erste wirtschaftswissenschaftliche Ausbildungsstätte des Landes überhaupt. Doch schon zwei Jahre später drängte ihn die Duvalier-Diktatur ins Exil.

Später arbeitete er mehrere Jahre für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Westafrika und als Chefunterhändler der UN-Organisation für industrielle Entwicklung. Zuletzt, im Exil im Süden Floridas, verdiente er sein Einkommen als Unternehmensberater und TV-Moderator. Eine seiner beiden erwachsenen Töchter arbeitet beim Internationalen Währungsfonds in Washington, eine zweite bei der Weltbank in Paris.

Zunächst muss Latortue die verfeindeten politischen Lager Haitis dazu bringen, gemeinsam zu handeln. Die Bevölkerung ist politisch tief gespalten zwischen den Anhängern des gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, die dem ehemaligen Armenpriester trotz seiner Wandlung zum Autokraten die Treue hielten, und denjenigen, die eine neue Regierung wollten und dies zuletzt mit einem gewaltsamen Aufstand zum Ausdruck brachten. Die Unruhen der letzten Wochen forderten etwa 150 Todesopfer.

In einem Interview mit dem Miami Herald sagte Latorture nach seiner Nominierung: „Ich freue mich sehr, etwas für mein Land zu tun und alle Haitianer zu einigen. Es ist an der Zeit, unsere Differenzen zu vergessen und einig für unser Land zu stehen.“ Auf Kritik, er habe zu lange im Ausland gelebt, sagte er am Mittwoch bei seiner Rückkehr aus dem Exil: „Wir leiden außerhalb des Landes genauso wie ihr, wenn wir beobachten, was in der Heimat geschieht.“

Andere meinten, der Neuanfang könne in dem Karibikstaat nur von einer Persönlichkeit geleitet werden, die Distanz zu den Fraktionen im Land habe. Latortue traut sich zu diese nationale Versöhnung zu. „Dies ist heute in Haiti das Wichtigste, was uns nach den Streitereien unter Aristide gelingen muss“, sagte er. Zumindest gelang ihm bereits, den so genannten Rat der Weisen von seiner Vision für Haiti zu überzeugen, als dieser einen neuen Premier suchte und unter drei Kandidaten wählen musste.

Latortue hat Erfahrung im Streit der politischen Kräfte Haitis, deren prominente Vertreter zum Teil wie er in Südflorida leben. Er gründete vor einem Jahr das Haitian Television Network of America (HTN) und leitete dort zwei wöchentliche politische Diskussionssendungen. Für haitianische Fernsehzuschauer war er damit so etwas wie Sabine Christiansen und Sandra Maischberger in Personalunion.

STEFAN SCHAAF