Ab in die Vergangenheit

Vor einem Jahr wurde Serbiens Ministerpräsident Zoran Djindjić ermordet. Seitdem stockt die Entwicklung des Landes – Konjunktur hat nur noch der Nationalismus

Nicht mehr die Mörder sind die Bösen, sondern das Opfer Zoran Djindjić

Vor einem Jahr wurde Zoran Djindjić von Attentätern erschossen. Seitdem ist die serbische Gesellschaft merklich zurückgefallen – nicht nur in altes, schon überwunden geglaubtes chauvinistisches Denken. Die zarten Pflänzlein der Demokratisierung und der Neuordnung des Staates sind in Gefahr wieder einzugehen. Zwar war Zoran Djindjić keineswegs die Lichtgestalt, die Europa in ihm sehen wollte. Doch er war ein Politiker, der über eine Vision verfügte.

Angetreten als Intellektueller der Frankfurter Schule, hatte Djindjić zwar Ende der Achtzigerjahre die eigene Gesellschaft schöngeredet und die ihm durchaus bewussten antidemokratischen, chauvinistischen und aggressiven Tendenzen in seiner Gesellschaft heruntergespielt und entschuldigt. Ihm war es wichtiger, den Kommunismus zu stürzen, als den Nationalismus zu bekämpfen. Und musste dabei zusehen, wie der Kommunist und Präsident Serbiens, Slobodan Milošević, sich mit den Nationalisten verbündete, um das alte Regime zu retten.

Er könne sich die serbische Gesellschaft nicht nach einem Wunschbild bauen, sagte er damals, er müsse sie nehmen, wie sie sei. Indem er während der Kriege in Kroatien, Bosnien und Kosovo sich zwar gegen Milošević stellte, doch zeitweise mit Gestalten wie dem bosnisch-serbischen Extremisten Radovan Karadžić paktierte, irritierte Djindjić seine Freunde. Milošević zu stürzen gelang ihm sogar nur, weil er Kontakte zum kriminellen und extremistischen Umkreis des Regimes unterhielt. An die Macht kam Djindjić im Herbst 2000 durch die Unterstützung der Sondertruppen der Polizei um Legija Luković, seinen späteren Mörder. Die demokratische Bewegung alleine hätte ihm wohl nicht so leicht nach oben helfen können. Doch immerhin hielt Djindjić all die Jahre daran fest, in Zukunft, wenn es das Machtgefüge zuließ, die Dinge grundlegend zu verändern. Das spürten viele Menschen, nicht nur in Serbien, auch bei den nichtserbischen Bevölkerungsgruppen in Bosnien, selbst im Kosovo.

Djindjić wurde zu einem Hoffnungsträger für ein besseres, demokratisches Serbien, das seinen Platz in Europa finden sollte. Zuletzt wollte er ernsthaft gegen die Kriminalität vorgehen. Wenn Serbien sich zivilisiert und stabilisiert, würde sich auch die Lage der Nachbarländer verbessern, hofften viele noch vor einem Jahr. Ein instabiles Serbien dagegen könnte alle Nachbarn, soweit sie Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind, wieder zerreißen.

Der letzte Woche erfolgte Mord am Hauptzeugen im Prozess gegen die Djindjić-Mörder muss allen Gutwilligen in Serbien Angst machen: Der lange Arm der Mörder reicht weit. Der neuen Regierung unter dem Djindjić-Gegner Vojislav Koštunica, der nur mit den Stimmen der Milošević-Partei die nötige Mehrheit im Parlament finden konnte, ist nicht zuzutrauen, den kriminellen Sumpf auszutrocknen. Indem bei den Wahlen zudem die rechtsextremistische „Radikale Partei“ mit einem Drittel der Stimmen zur stärksten Kraft im Lande wurde, wären der Regierung sogar bei gutem Willen die Hände gebunden. Von der Regierung Koštunica ist also wenig Zukunftsweisendes zu erwarten.

Und von der Gesellschaft insgesamt? Angesichts der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit, angesichts der Verelendung breiter Bevölkerungsschichten im Zuge der Privatisierung der Betriebe wählten zu viele die Vergangenheit. Der Ton wird durch die Radikalen vorgegeben. Sie fordern die Rückkehr Kosovos nach Serbien, propagieren offen die Teilung Bosniens und verfolgen sogar die alten Kriegsziele in Kroatien. Das alles entspricht voll und ganz der Kriegspropaganda 1991.

Sicherlich sind das heute lediglich chauvinistische Träumereien. Gegenwärtig ist die serbische Armee nicht in der Lage, von sich aus „Ordnungsfunktionen“ wahrzunehmen und in die Nachbarländer einzufallen. Sie wieder aufzurüsten, dazu ist das Land zu arm geworden. Die Präsenz internationaler Truppen im Kosovo und in Bosnien ist zudem ein entscheidendes Hindernis. Die Nato ist deshalb – bisher – der stabilisierende Faktor auf dem Balkan. Die Realisierung dieser Träume ist also nicht zu befürchten.

Schuld an der negativen Entwicklung trägt auch die internationale Politik. Denn weder aus dem Bosnien- noch dem Kosovokrieg sind eindeutige politische Entscheidungen für die Neuordnung der Region hervorgegangen. Mit großem Aufwand verwalten die internationalen Organisationen die Konflikte, ohne sie zu lösen. Das Abkommen von Dayton hat seit 1995 zwar in Bosnien und Herzegowina für Frieden gesorgt, mit der Teilung des Landes wurden jedoch gleichzeitig die Aggressoren belohnt. Die nationalistischen Kräfte in der serbischen Teilrepublik in Bosnien und Herzegowina propagieren nach wie vor eine Vereinigung ihrer Republik mit Serbien. Djindjić spielte zwar verbal mit den nationalen Gefühlen, entzog jedoch den bosnisch-serbischen Nationalisten die finanzielle und logistische Unterstützung aus Belgrad. Man wird sehen müssen, wie Koštunica sich verhält. Doch schon jetzt scheinen die serbischen Extremisten in Bosnien wieder von Belgrad ermuntert zu werden.

Ein instabiles Serbien könnte alle Nachbarn, soweit sie Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind, wieder zerreißen

Und da sich die internationale Gemeinschaft in Bezug auf Kosovo ebenfalls drückte, nach dem Einmarsch der Nato und der Errichtung eines UN-Protektorates 1999 eindeutig zu entscheiden, blühen immer noch Hoffnungen in Serbien auf Rückkehr der mehrheitlich von Albanern bewohnten Provinz in den serbischen Staat. Einerseits soll das Kosovo einen unabhängigen Status haben, andererseits aber zu Serbien beziehungsweise Serbien-Montenegro gehören. Die Unentschiedenheit der internationalen Gemeinschaft schafft nicht nur Unsicherheit für die Albaner und für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, sondern auch für die Serben. Der nicht entschiedene Status des Kosovo bietet breiten Raum für nationalistische Agitationen. Bei diesem mythenbefrachteten Thema sind sich sogar alle Kräfte des politischen Spektrums einig darin, dass das Kosovo nach Serbien zurückgeholt werden muss.

Ein großer Teil der Gesellschaft empfindet den verlorenen Krieg als Schmach und als das Werk finsterer ausländischer Mächte vom Vatikan bis hin zum Vierten Reich. Der Krieg in Bosnien wird nicht als Angriffs-, sondern als Bürgerkrieg gewertet. Alle Seiten hätten Verbrechen begangen, doch nur die Serben würden bestraft, ist die Stimmung in Bezug auf das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Koštunicas Weigerung, mit dem Tribunal zusammenzuarbeiten, ist populär. Kein Serbe soll mehr ausgeliefert werden. Und sei es um den Preis, auf Finanzhilfen und auf die Annäherung an die EU zu verzichten. Die Rechtsextremisten wollen sich ohnehin an das Russland Putins anlehnen. Und der ehemalige Hoffnungsträger Zoran Djindjić wird heute von der nationalen Presse mit Enthüllungen über angebliche Korruption systematisch demontiert. Nicht mehr die Mörder sind die Bösen, sondern das Opfer. Das hat Zoran Djindjić wirklich nicht verdient.

ERICH RATHFELDER