Selbstbeschränkung als Waffe

von BETTINA GAUS

Wolfgang Schneiderhan erzählt. Irgendwann kam er während eines Truppenbesuchs in eine Ausbildungsstunde für Wehrpflichtige, die gerade auf ziemlich umständliche Weise in der Kunst des Kartenlesens unterwiesen wurden. Schneiderhan schaute in verständnislose Gesichter. Schließlich fragt er einen der jungen Soldaten, wie er hergekommen sei. „Mit dem Auto.“ Wie er den Weg gefunden habe? „Mit dem Atlas.“ Die Zuhörer lachen. Schneiderhan lächelt. Und sagt: „Man muss nicht alles immer komplizierter machen als nötig.“

Eine solche Anekdote lässt sich auf mehrere Arten ausschmücken, und die meisten gehen schief. Die Gefahr ist groß, dass am Ende entweder der Ausbilder dasteht wie ein Idiot oder der Rekrut – und nur einer als strahlender Held: nämlich der Erzähler. In diesen Fällen bleibt stets ein unguter Nachgeschmack, mag die Geschichte noch so lustig sein. Wolfgang Schneiderhan hat die seltene Gabe, hinter seinen eigenen Pointen auch dann zu verschwinden, wenn er selbst ein Hauptbeteiligter ist. Dafür muss jemand entweder sehr zurückhaltend oder sehr selbstbewusst sein. Am besten beides.

„Da, wo er hinkommt, gewinnt er die Herzen. Er nimmt jedes Plenum für sich ein“, sagt ein Offizier, der den Aufstieg des 56-Jährigen bis zum Generalinspekteur der Bundeswehr seit Jahren beobachtet hat. Die Bemerkung ist nicht als Kompliment gemeint. „Man ist begeistert, wenn man ihm zuhört. Und wenn man rauskommt, fragt man sich: Was war eigentlich die Botschaft?“ An eine Sphinx fühle er sich erinnert. „Ich weiß nicht, wie er die Rolle des Generalinspekteurs versteht.“ Falls er eine „Vision im Tornister“ habe, dann behalte er sie für sich. Dem Offizier reicht das nicht.

Stichwort Präventivkrieg

Ein Mitglied des Verteidigungsausschusses im Bundestag äußert sich wohlwollender. „Grundsympathisch“ sei Schneiderhan, „gar nicht militärisch zackig.“ Aber: „Als Generalinspekteur ist er noch ein bisschen unfassbar.“ Wenn er Stellung beziehe, dann sei er stets sehr konkret und informativ. Er beziehe jedoch nicht immer Stellung.

Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) wird demnächst die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien vorstellen. Nicht nur in Bundeswehrkreisen werden sie mit Spannung erwartet, denn sie enthalten politischen Zündstoff: einen überarbeiteten Verteidigungs- und Sicherheitsbegriff, voraussichtlich eine Erweiterung der militärischen Einsatzmöglichkeiten. Weltweit – und nach innen. Der Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in eine Interventionsstreitmacht wird weiter vorangetrieben. Und was sagt der Generalinspekteur dazu? Wenig.

Stichwort Präventivkrieg: „Präventive Krisenvorsorge ist nicht gleich präventive Kriegsführung.“ Schließt er also einen Präventivkrieg grundsätzlich als legitime Möglichkeit aus? „Ich weiß nicht, ob man das so allgemein beantworten kann. Es ist möglich, dass es notwendig sein kann, vorbeugend zu handeln.“ Wie beurteilt er die Äußerung von Peter Struck, die Sicherheit der Bundesrepublik werde auch am Hindukusch verteidigt? „Ich komme mit dem Wort vom Minister gut klar, weil er das Wort Verteidigung benutzt hat.“ Lassen sich innere und äußere Sicherheit auch künftig noch scharf voneinander trennen? „Ich habe da noch keine Lösung. Aber die Politik ist jetzt mal gefragt. Das ist eine grundsätzliche Entscheidung. Da muss sich die Politik positionieren, und das Militär muss daraus seine Konsequenzen ziehen.“ Unverbindlicher kann man sich nicht äußern.

Wenn sich jemand so konsequent zurückhält, liegt der Verdacht nahe, dass es sich um einen Leisetreter handelt. Auf Wolfgang Schneiderhan aber scheint dieser Begriff so gar nicht passen zu wollen. Dafür tritt er allzu sicher auf. Auf dem Schreibtisch des Generalinspekteurs liegt stets ein Zettel. Darauf steht ein Zitat von Konfuzius: „Das Handeln ist so schwierig, darf da das Reden unbedacht sein?“ Unbedachte Bemerkungen sind Schneiderhan öffentlich noch nie vorgeworfen worden, und auch in anderer Hinsicht ist er bislang nicht ins Gerede gekommen. Was eigentlich erstaunlich ist: Immerhin war er seinerzeit als Leiter des Planungsstabes maßgeblich an der Entwicklung der Bundeswehrreform beteiligt, die nun nachgebessert werden muss, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht.

Überrascht hat das kaum jemanden. Aber es wird dem im letzten Jahr entlassenen Verteidigungsminister Rudolf Scharping und dem zur Nato entschwundenen Exgeneralinspekteur Harald Kujat zur Last gelegt, nicht dessen Nachfolger Schneiderhan. Worauf führt er selbst es zurück, dass er von Kritik bisher weitgehend verschont geblieben ist? „Das führe ich darauf zurück, dass ich mit Kritik an anderen auch außerordentlich zurückhaltend bin“, sagt er milde. Eine höfliche und nichtssagende Antwort. Oder ein Seitenhieb auf Klatsch und üble Nachrede, die gerade in der hermetischen Welt des Verteidigungsministeriums üppig blühen.

Er verkündet Schmerzliches

Schneiderhan hat nichts dagegen, Interpretationen seiner Äußerungen anderen zu überlassen. Ein listiger Blick durch die randlose Brille, schräg von unten über die glimmende Zigarette – dabei bleibt es. Allenfalls gestattet er sich mal ein Blinzeln. Im Gegensatz zu beißendem Sarkasmus ist stille Ironie eine verführerische Projektionsfläche für jedes Gegenüber. Man glaubt sich leicht in Übereinstimmung mit dem, der da stumm seinen eigenen Spott genießt. Das kann täuschen.

Getäuscht haben sich in letzter Zeit manche. Wolfgang Schneiderhan verhält sich gelegentlich, als sei er der Betriebsratsvorsitzende der Bundeswehr, und er sagt von sich selbst, eine solche Charakterisierung würde ihm „nicht weh tun“. Über die Nöte von Gefreiten und die Sorgen von Familienangehörigen der Soldaten im Auslandseinsatz spricht er gern und mit glaubhaftem Engagement. Einige hat das zu der irrigen Hoffnung veranlasst, er werde im neuen Amt ein Bollwerk gegen alle Sparmaßnahmen sein. Aber der Generalinspekteur verkündete Schmerzliches für das Offizierskorps: Auf den geplanten Kauf von 30 Hubschraubern „Tiger“ wird zunächst verzichtet, an der Bewaffnung für den Eurofighter wird gespart, Kampfflugzeuge sollen früher als geplant außer Dienst gestellt werden, die Marine muss Schnellboote abschaffen.

Das Ende der Fahnenstange ist damit noch nicht erreicht. Die Kompetenzen des Generalinspekteurs, der noch von Rudolf Scharping zum ranghöchsten Soldaten der Bundeswehr befördert worden war, wurden wenige Wochen nach seinem Amtsantritt erheblich erweitert. Er ist nun verantwortlich für die Bundeswehrplanung und die Ausstattung der Streitkräfte. Angesichts der Ebbe in der Kasse ist das vielleicht ehrenvoll, aber nicht so heiter. Spätestens nach Bekanntgabe der neuen Richtlinien dürften die nächsten Grausamkeiten anstehen. Freunde in den eigenen Reihen schafft man sich so nicht. „Ich kann mir schon vorstellen, dass der eine oder andere unzufrieden ist“, sagt Schneiderhan und lächelt hintersinnig. Er scheint damit gut leben zu können.

„Betonkopf“ wird er genannt

Enttäuscht hat der General, der als SPD-Anhänger gilt, aber auch alle Gegner der Wehrpflicht. Bei diesem Thema ist für ihn Schluss mit lustig: „Wir brauchen die Wehrpflichtigen zur Erfüllung unserer Aufgaben.“ Vor nicht einmal drei Jahren habe das Kabinett die neunmonatige Wehrpflicht beschlossen. „Und nun hebt bei uns eine Diskussion darüber an, ob nicht sechs oder vier oder drei Monate besser wären.“ Das stelle die Glaubwürdigkeit in Frage. „Neun Monate, mein Gott, was machen wir für ein Trara!“ Und: „Der Verzicht auf jede Art von Pflichtübernahme außer Steuernzahlen, das kann nicht gut sein für eine Gesellschaft.“ Kein Augenzwinkern, kein schräger Blick von unten. „Betonkopf“ wird Schneiderhan inzwischen von manchen genannt, denen der Umbau in eine effiziente Interventionsarmee gar nicht schnell genug gehen kann. Auch das ficht ihn offenbar nicht an.

Wolfgang Schneiderhan scheint mit sich selbst ganz und gar im Reinen zu sein. Wie schafft man das? Die Frage lässt sich nicht leicht beantworten bei jemandem, der mit privaten Auskünften mindestens so sparsam umgeht wie mit politischen Statements. Der Sohn einer Schneidermeisterin und eines ehemaligen Wehrmachtsoffiziers, der später Amtmann wurde, ist mit einer Richterin verheiratet und hat fünf erwachsene Kinder. Es ist ihm anzumerken, dass er es im Gespräch am liebsten bei diesen nüchternen Eckdaten belassen möchte. Was muss einer wie er unter den Pool-Fotos von Scharping gelitten haben! Aber auch dazu würde er sich öffentlich niemals äußern. Natürlich nicht.

Ein Lehrer habe ihn besonders geprägt, erzählt er auf Nachfrage dann doch, und beim Gespräch über diesen Mann erwärmt er sich zusehends: Rudolf Weber habe seinen Schülern „auf sehr nachvollziehbare Weise die Pflicht gegenüber dem Staat nahe gebracht“. Erklärte auch, die Bundeswehr habe den Auftrag, den Rückzug aus der unseligen Geschichte der Kriege zu sichern. „Den Satz find’ ich heute noch gut.“ Und er besucht nach wie vor seinen alten Lehrer.

Aufgewachsen im tiefschwarzen Oberschwaben, als 20-Jähriger Soldat geworden – und später ein Bewunderer der Ostpolitik Willy Brandts. Wie verträgt sich das? Und wie kam er mit dieser Meinung seinerzeit in der Bundeswehr zurecht? Achselzucken, schräger Blick von unten. „Reizvoll“ sei das gewesen. Vielleicht ist doch was dran am Begriff der Sphinx. Aber vielleicht ist es auch einfach das Beste, was einem passieren kann: Wenn die eigenen Grundsätze fest genug sind für das Wagnis des eigenständigen Denkens. Dabei lernt man wohl auch schnell, zu unterscheiden, wofür man verantwortlich ist und wofür nicht. Einem Generalinspekteur mag das in unruhigen Zeiten helfen. Die Politik macht der Verteidigungsminister. Nicht er. Selbstbeschränkung kann eine mächtige Waffe sein.