Der Golem aus dem Eis

Putin pflegt seine Rolle als Unbekannter. Jeder Bürger mag sich den Präsidenten formenDer Kremlchef ist allgegenwärtig, ein Produkt raffinierter Imagemacher

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Jelzins Leute hätten ihn aus einem Lehmklumpen geformt und Atem eingehaucht, scherzte Leonid Parfjonow, einer der bekanntesten russischen TV-Moderatoren, nach der Amtseinführung des neuen Präsidenten im Kreml. Inzwischen sind vier Jahre vergangen, und jedes öffentliche Wort will wohl bedacht sein. Wladimir Wladimirowitsch Putin, ein russischer Golem? Als Helfer seines Volkes in der Not mag der Vergleich mit der jüdischen Sagengestalt sogar zutreffen. Die Russen verehren ihren Präsidenten. Eine Stilllegung wie im Mythos, sobald der Golem gefährlich wird, dies ist mit WWP indes nicht zu machen. Wer seine Kreise stört, der hat nichts mehr zu lachen.

Die Russen schätzen dies. Wenn der Präsident mit eisiger Miene neu ernannten Ministern im gleichgeschalteten Kreml-TV minutenlang die Leviten liest, ganz prophylaktisch, noch haben sie nicht gefehlt – dann fühlen sich die meisten Bürger in guten Händen: Der Präsident weiß, was er von seinen Untertanen zu halten hat und er kennt ihre Schwächen. Säßen sie an seiner statt oder auch auf der anderen Seite des Kabinettstisches, sie würden genauso handeln. Daher werden die Bürger ihrem Oberhaupt bei den Präsidentschaftswahlen am Sonntag mit 70 bis 85 Prozent einen fulminanten Sieg bereiten. Einen Haken hat der hohe Zuspruch aber. Je besser der „gute Zar“ abschneidet, desto deutlicher spiegelt sich darin das Misstrauen gegenüber Politikern, die in seinem Namen handeln (siehe Kästen). 90 Prozent der Russen halten den Staat für einen Hort der Willkür. Diese Kluft ist es auch, warum Putin nicht den leisesten Widerspruch duldet.

Die Russen schätzen den Präsidenten auch, weil er anders ist als sein Vorgänger Boris Jelzin: jung, sportlich, dynamisch und gesund. Im Gegensatz zum Ziehvater weiß er, was Dienst ist und was Schnaps. Seiner muss man sich nicht mehr schämen. Viel wissen gleichwohl auch sie nicht über Wladimir Putin, weder aus seinem Privatleben, noch welche politische Linie er eigentlich verfolgt. Das macht ihn zur Projektionsfläche, das erhebt ihn zum Präsidenten des ganzen Volkes. Wirtschaftsliberale setzen auf Putin, weil sie in ihm einen Modernisierer erahnen, Freunde der alten Ordnung würdigen den Kremlchef als heimlichen Vollstrecker ihrer Sache: „Sie versuchen heute, das zu tun, was wir 1991 wollten“, meinte der ehemalige Ministerpräsident und Putschist von 1991, Walentin Pawlow, in Richtung des Präsidenten.

Putins Stil ist zurückhaltend. Vorgänger Boris Jelzin kannte unterdessen keine Hemmungen. Er sagte, was er dachte – und das in einem Stil, der so mancher Russischlehrerin den Atem verschlug. Der Nachfolger sagt gerade mal das Allernötigste, farblos, ohne Schnörkel, bürokratisch und grammatikalisch korrekt. Putin ist scheu, er fühlt sich unwohl im Gespräch mit Fremden. Ob mit Studenten im sibirischen Krasnojarsk oder vor angehenden Elitekadern in Moskau, er muss sich zwingen. Small Talk, gar Diskussion sind nicht sein Metier. Gelächelt wird nur, wenn es die Dramaturgie vorsieht.

Der gelernte Geheimdienstmann ist ein geborener Beobachter. Er saugt emotionslos alles in sich auf. Man habe manchmal den Eindruck, der Präsident sei gar nicht da oder mit dem Tapetenmuster seines Arbeitszimmers verschmolzen, meint Jelena Tregubowa. Die Mimikry wirkt, so die Journalistin, die als Erste aus dem intimen Kreis der Kremlberichterstatter ausgestoßen wurde: Bei Staatsbesuchen sähe man George W. Bush oder Gerhard Schröder gleich zweimal vor sich.

Putin pflegt seine Rolle als unbekanntes Wesen. Darin besteht ein Teil seines Erfolges. Jeder Bürger mag sich seinen Präsidenten formen, so wie er ihn gerne hätte. Dafür gibt er den Ski laufenden Nichtraucher genauso wie den U-Boot fahrenden Oberkommandierenden. Für Tauchfahrten auf See ist Putin ohnehin geschaffen, klein und schmächtig, mit ausholendem Seemannsgang, den er an Bord nicht kontrollieren muss. Auf dem Boot, im Düsenjet, überhaupt im Kreise von Militärs wirkt der Präsident entspannter. Die Rolle des Oberkommandierenden wird nicht hinterfragt.

Die Contenance verliert Putin nur als Vorkämpfer gegen den internationalen Terrorismus. Beim Stichwort Tschetschenien verfällt der Kremlchef auf Knopfdruck in ein schäumendes Argot der Petersburger Hinterhöfe seiner Kindheit. Die fundamentalistischen Muslime im Kaukasus sind ein rotes Tuch für ihn. Auf dem EU-Gipfel in Brüssel vor zwei Jahren lud er einen Fragesteller zur Beschneidung nach Moskau ein: Dort hätte man „Spezialisten, die dafür sorgen, dass nichts nachwächst“. Mit Tschetschenien hat sich der Staatschef in den Kreml gebombt und sich zugleich eine Schlinge um den Hals gelegt. Er kann das Problem nicht lösen, gestände er dies ein, würden ihm die Stützen in Militär und Geheimdienst die Gefolgschaft aufkündigen. Die Russen sehen ihm in diesem Punkt selbst die derbsten Sprüche nach. Das „mat“ – Mutterflüche – ist die lingua franca der von Männern beherrschten Sicherheitsstrukturen. Und schließlich: Putin ist ja der Patriot, der Russland auf der Weltbühne wieder einen würdigen Platz zurückerobert hat.

Der Kremlchef ist allgegenwärtig: Hier nimmt er sich obdachloser Kinder an und kümmert sich um verspätete Rentenzahlungen, dort flickt er lecke Gasleitungen oder chattet mit der Jugend. Natürlich geschieht all dies nicht spontan und auch nie ohne Kamera. Mit WWP ist Russland im postindustriellen Zeitalter angekommen. Der Präsident ist ein Produkt raffinierter Imagemacher. „So einen wie Putin“, singt die Teenie-Band „pojuschtschije wmeste“ (Die zusammen singen). Auf dem Plattencover überragt ein lächelnder Präsident zwei verführerische Girls.

Eigentlich ist der Präsident klein und blass. „Nikakoj“ sagen die Russen dazu – nichts Besonderes, so einer wie wir. Ein Mensch, der genauso empfindet wie sie. Auch deswegen sei er so unendlich beliebt, meint Mentalitätsforscherin Anna Kolesnikowa. Unter ihren Kolleginnen habe sie festgestellt: Je weniger Eigenschaften sichtbar würden, desto mehr dichteten die Russen hinzu. Nach den Jahren des chaotischen Umbruchs unter Jelzin ist das Land müde und erholungsbedürftig. Ein ruhiger Politiker provoziert keine Ab- oder Gegenwehr wie noch der polternd-charismatische Jelzin. Putin, ein vorsichtiger Bürokrat, den die Geschichte zufällig an die Macht gespült hat, verkörpert die Sehnsucht der Russen nach Muße und Zeit zum Träumen. Dafür hat der Kremlchef gesorgt: Die Wirtschaft läuft dank der hohen Gas- und Ölpreise fast wie von selbst, und der Staat zahlt auch wieder regelmäßig Löhne. Alles andere interessiert das Wahlvolk nur am Rande.

Dass die angekündigten Reformen der kampfunfähigen Armee, der korrupten Bürokratie oder des ineffizienten Bankensystems nicht vom Fleck kommen oder aus Angst vor Gegenwehr der mächtigen Lobbys eingestellt wurden, ist den Bürgern nicht aufgefallen. Dass der Tschetschenienfeldzug nicht als Blitzkrieg endete, wie versprochen, sondern im fünften Jahr in der Moskauer U-Bahn, ein Steinwurf vom Kreml entfernt oder in einem Musicaltheater der Metropole stattfindet, wird bestenfalls mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen.

Die aussichtslose Gegenkandidatin Irina Chakamada, die sich der Wahl stellt, damit die Demokraten würdevoll und nicht kampflos abtreten, nennt die Dinge beim Namen: Stabilität – angesichts eines Krieges und wachsenden Terrors? Ordnung – unter der Knute einer Bürokratie, die so korrupt ist wie nie zuvor? Kampf den Räuberbaronen – die sich vor dem Hintergrund der schamlosen Verteilungskämpfe der neuen Elite bald ausnehmen werden wie harmlose Ladendiebe? Chakamada hielt dem Präsidenten sogar vor, den Tod von über 100 Geiseln verantwortet zu haben, die beim Sturm des Musicaltheaters im Herbst 2002 ums Leben gekommen waren. Putin fackelte nicht lange, Chakamada verschwand aus den Schlagzeilen und der Kreml erließ gegen den Kampagnenfinanzier Haftbefehl. Auch das ist eine Seite des Präsidenten, seine Unerbittlichkeit, der Gegner muss zermalmt werden. Die Demokraten haben ihren Niedergang indes selbst verschuldet, durch Tatenlosigkeit und Arroganz. Das sieht ihnen ein Russe, der zur Egalität verdammt ist, nicht nach.

Solange an der medialen Front Ruhe herrscht, spielt die Wirklichkeit eine untergeordnete Rolle. Russland durchlebt eine Zeit der Mythenbildung und Verklärung. Fakten stören nur. So mutiert ein Cunctator Putin, der abtaucht, sobald es brenzlig wird, wie bei der Havarie des gesunkenen Atom-U-Bootes „Kursk“, in der heimischen Inszenierung in einen nachdenklichen, doch entschiedenen Akteur.

Das Phänomen Putin ist das Negativ einer passiven Gesellschaft, die unsicher ist, ob sie sich den mentalen Herausforderungen der Modernisierung weiterhin stellen soll. Der Präsident wirkt als Hypnotiseur und suggeriert dem schläfrigen Volk, es sei über den Berg und kurz davor, wieder zu früherer sowjetischer Größe aufzulaufen. Wiktor Schenderowitsch, Russlands unbarmherziger Satiriker, vergleicht die Ära WWP mit der Restaurationsperiode unter Alexander I. Das Zarenreich litt nach dem Wiener Kongress 1815 an lähmender Stagnation, obskurem Mystizismus, zwielichtiger Entscheidungsscheu und Machtmissbrauch. Aus Angst vor Veränderungen betete die Krone das Land gesund, bis die Frucht faul vom Baum fiel. Der alten Zeit trauert der frühere Geheimdienstoberst Putin denn doch ein wenig nach, dem Imperium, der alten Hymne, der Roten Armee, dem KGB, dem Wehrsport und der fiktiven Geschichtsschreibung zumindest.

Als die Sowjetunion zusammenbrach, saß er als junger Agent in einem kleinen Außenposten in Dresden. Die DDR war für ihn der Inbegriff eines sozialistischen Paradieses. Die DDR-Bürger, die das anders sahen, hat der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Kundschafter nie verstanden. Und auch nicht, warum in Moskau niemand ans Telefon ging, als eine wütende Meute vor dem KGB-Büro demonstrierte: „Moskau schwieg. Ich hatte das Gefühl, unser Land gab es nicht mehr.“ Die Demütigung sitzt tief. Auch deswegen lieben ihn die Russen, denn er ist einer von ihnen. Fleisch gewordenes Russland, ein Wesen, das sein Maß nicht findet und zwischen überbordender Überheblichkeit und Servilität oszilliert.

Darin erkennt sich der Russe wieder. Modernisierer, Gegenreformator hin oder her. Was zählt, ist Macht, nicht Souveränität.