Am Morgen, da das Leben endet

Ihr Ziel: der Arbeitsplatz. Ihr Schicksal: der Tod. Gestern Morgen starben in Madrid mehr als 180 Menschen bei einer Serie von Bombenanschlägen

Die Täter hatten die Sprengsätze in Taschen und Rucksäcken in den Zügen deponiert

AUS MADRID REINER WANDLER

Aufgerissene Zugwaggons, Leichen auf den Gleisen, Menschen in Panik mit blutüberströmten Gesichtern … in Madrid bot sich gestern ein Bild des Grauens.

Zehn Bomben explodierten gestern früh in in vier Nahverkehrszügen der spanischen Hauptstadt Madrid. Die ersten zwei detonierten, als der Zug gerade in den hoch frequentierten Madrider Bahnhof Atocha im Zentrum der Stadt einfuhr. Es war 7.35 Uhr morgens. Der völlig überfüllte Nahverkehrszug brachte wie jeden Tag Arbeiter, Studenten und Schüler von den Vororten in die Hauptstadt. Nur zwei Minuten später zerfetzte ein weiterer Sprengsatz den Waggon eines Zuges, der soeben in den Bahnhof von Santa Eugenio, einem Arbeiterstadtteil am südlichen Stadtrand, einfuhr.

Um 7.55 Uhr explodierte der nächste Sprengsatz in einem Zug, der sich in der Haltestelle Pozo del Río Raimundo befand, ebenfalls im Süden der Hauptstadt gelegen. Die betroffenen Pendlerlinien gehören zu den am meisten frequentierten der Hauptstadt. Die Einsatzleitung der Rettungskräfte zählte schließlich zehn Explosionen mit mehr als 180 Toten und mindestens 1.000 Verletzte.

„Die Bombe explodierte im mittleren Waggon, genau dort, wo alle einsteigen“, erklärte eine Schülerin in Santa Eugenio unter Tränen. Der Wagen wurde völlig zerstört, das Dach abgerissen. Wer laufen konnte, verließ die Züge zu Fuß, weinend, blutüberströmt.

Die Rettungskräfte erwartete im Zug ein Bild des Schreckens, wie es sonst nur von Krisenherden der Welt bekannt ist: Papiere, Taschen, abgetrennte Gliedmaßen, Schwerverletzte und verkohlte Tote, denen die Explosion die Kleidung vom Leib gerissen hatte.

An den anderen Anschlagsorten das gleiche Grauen. In Atocha war die Druckwelle so stark, dass selbst die außerhalb des Bahnhofsgeländes geparkten Autos zerstört wurden.

Die mehreren hundert zum Teil schwer Verletzten sprengten die Kapazitäten der Krankenhäuser Madrids. Neben den drei Bahnhöfen wurden Feldlazarette aufgebaut. Die Leichen wurden in einen Pavillon auf dem Messegelände gebracht. Ein Psychologenteam betreut die Angehörigen. Die Radiosender riefen dazu auf, die Handys nicht zu benutzen, um die Kommunikationsstrukturen vor dem Zusammenbruch zu schützen. An mehreren Stellen der Stadt wurden Busse aufgestellt, in denen die Bürger Blut spenden können.

„Die meisten Opfer erlitten Verstümmelungen oder schwere Schnittverletzungen am ganzen Körper“, erzählt ein Sprecher des Roten Kreuzes. Sie wurden Opfer der überall herumfliegenden Glas- und Metallsplitter. Wer nur leichte Verletzungen davongetragen hatte, wurde aufgefordert, selbst den Arzt aufzusuchen.

Die Krankenhäuser befinden sich am Rande ihrer Kapazität. Der Verkehr in Madrid brach zusammen, Hubschrauber kreisten über der Stadt. Das Heulen von Polizeisirenen und Martinshörnern war überall zu hören. Überall drängten sich die Menschen um Fernsehapparate und Radiogeräte. Extraausgaben der hauptstädtischen Presse waren im Nu ausverkauft. Ungläubig nahmen die Menschen die Schreckensnachricht auf.

Papiere, Taschen, abgetrennte Gliedmaßen, Schwerverletzte

Polizei und Feuerwehr suchten die Züge und die Umgebungen der Bahnhöfe nach weiteren Sprengsätzen ab. Um 10 Uhr fand die Polizei dann in Atocha ein verdächtiges Auto mit gefälschten Kennzeichen. Kurz vor zwölf stießen die Beamten in einem der zerstörten Züge auf mindestens zwei weitere Rucksäcke mit Sprengsätzen. Die Bomben wurden von Spezialisten zur kontrollierten Explosion gebracht. Die Ermittlungen ergaben, dass die Täter die Sprengsätze in Taschen und Rucksäcken in den Zügen deponiert hatten.

„Die Mörder und ihre Komplizen werden gefasst und der Justiz zugeführt werden“, erklärte die Präsidentin der Landesregierung von Madrid, Esperanza Aguirre, bei ihrem Besuch in Atocha. Den ganzen Tag über besuchten Vertreter der verschiedenen Institutionen den Ort des Grauens. Der Bürgermeister der Stadt Ruiz Gallardón ebenso wie der Vizepräsident der spanischen Regierung Rodrigo Rato und Innenminister Angel Acebes, bevor sie sich im Regierungspalast Moncloa mit dem noch amtierenden Regierungschef José María Aznar zu einer Sitzung des Krisenkabinetts trafen.

Sofort nach den Explosionen ordnete Spaniens Innenminister Angel Acebes die Anschläge der baskischen ETA zu. Im Laufe des Tages kamen immer wieder Spekulationen auf, dass möglicherweise al-Qaida die Verantwortung trüge. Umgehend meldete sich Arnaldo Otegi, Chef des politischen Arms der ETA, der verbotenen Basken-Partei Batasuna, zu Wort und lehnte jede Verantwortung für den Anschlag ab. Die ETA habe vor bevorstehenden Sprengstoffanschlägen immer telefonisch gewarnt. Alles weise darauf hin, „dass es diese Art Anruf heute nicht gegeben hat“. Er vermute den „arabischen Widerstand“ hinter den Anschlägen. Am Nachmittag dann sagte Innenminister Ángel Acebes vor Journalisten, es gebe keine Hinweise auf eine Verbindung zum Terrornetzwerk al-Qaida.

ETA ist so geschwächt wie nie. Allein im letzten Jahr wurden über 150 Etarras in Spanien und Frankreich gefasst. Die Leitung der Gruppe wurde mehrmals zerschlagen. „ETA hat noch immer die Kraft, Schaden anzurichten“, hatte die spanische Regierung trotz der Fahndungserfolge immer wieder gewarnt. In den letzten Monaten hatte einiges darauf hingedeutet, dass die Baskenorganisation einen großen Anschlag plant. So wurden an Weihnachten zwei Etarras festgenommen, die mit einem Koffer voller Sprengstoff im Zug von der Baskenmetropole San Sebastián nach Madrid reisten. Vermutlich sollte der Sprengsatz im Nordbahnhof Chamartín gezündet werden. Vor wenigen Tagen fasste die Guardia Civil zwei Etarras, die mit einen Lieferwagen mit einem Sprengsatz von über einer halben Tonne nach Madrid unterwegs waren.