Zwischen Bauruinen und Nähmaschinen

Tausende Näherinnen schufteten im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit in den neu entstandenen Textilfabriken. Den Aufstieg und Untergang der Textilindustrie dokumentiert ein Ausstellungsprojekt der Gelsenkirchener flora

850 Knopflöcher hat Paula Brandt pro Tag gestanzt damals 1951. Sechs Tage die Woche, „so zwölf, dreizehn Stunden am Tag“, möglichst ohne zwischendurch zur Toilette zu müssen. Heute wandert die alte Dame durch die Ausstellungsräume der Gelsenkirchener flora und betrachtet fasziniert die Firmenlogos ihrer ehemaligen Arbeitgeber. Bei HUKO in einer alten Warenhalle am Gelsenkirchener Hauptbahnhof war das mit den Knopflöchern und dann bei Feilgenbach nähte Paula Brandt Ärmel an Damenblusen. „Die Maschinen waren bedeutend leiser als die Stanzmaschinen“, erinnert sie sich.

Aber immer noch zu laut. Im Abstand von gerade mal 87 Zentimetern sind Feilgenbachs Nähmaschinen aufgereiht. Über dunkle Stoffe gebeugt sitzen dicht an dicht die Näherinnen. Das alte Foto wertet nicht, die Frauen haben nicht einmal Zeit gequält zu gucken. Auf der Tafel darunter stehen Zitate der innerhalb eines langjährigen Forschungsprojekts befragten Arbeiterinnen. „Kaum Luft habe sie gekriegt wegen der Dämpfe aus der Bügellei“, „es gab kein einziges Fenster“, weiß eine andere.

Fast 24.000 Menschen arbeiteten unter diesen Bedingungen in der boomenden Textilindustrie des Ruhrgebiets. Überwiegend Frauen, weil Nähen eben Frauensache war. Erst Anfang der 80er schloß ein Betrieb nach dem anderen, weil... Auch die Bilder für dieses Weil hängen an den Wänden der Ausstellungsräumen und flimmern von den Bildschirmen. Phillipinische Frauen sitzen dicht an dicht in fensterlosen Räumen, gebeugte Rücken, 16 Stundenschichten. Sie streiken nicht, ihre Arbeit ist hundertmal so billig, deshalb denken die meisten Textilunternehmer heute global und was die „fünfte Säule des Wirtschaftswunders im Ruhrgebiets“ werden sollte, wie Gelsenkirchens Bürgermeister 1950 verkündete, ist heute Geschichte. In der flora wird sie auf großflächigen Ausstellungstafeln, in alten Stadtfilmen und mit Zitaten - zum Teil auch mit Führungen von Zeitzeugen erzählt. Die Berichte und Texte über die großen Streiks von 1961, die schrittweisen Verbesserung der Arbeitsbedingungen und den Einzug der Globalisierung sind in Bezug auf diese Industrie des Ruhrgebiets bislang einmalig.

25 Pfennig mehr Lohn und nur noch 40 Stunden Arbeit forderte die Gewerkschaft Textil Bekleidung 1961 auf einem vergilbten Plakat. In Gelsenkirchen zog das ganze Textilviertel in der Dietkampstraße mit, als es dann hieß: Wir müssen streiken, für unsere Gesundheit, um unsere Kinder ernähren zu können.

Paula Brandt ist heute immer noch stolz auf sich und ihre Kolleginnen. „Unsere Chefs haben überhaupt nicht damit gerechnet, dass auch Frauen sich wehren können“, sagt sie. Wie kreativ dieser neue weibliche Protest war, zeigen die Fotos alten Fotos aus den Gelsenkirchener Zeitungen. Auf Rollschuhen skateten die Näherinnen mit ihren Streikplakaten durch die Gelsenkirchener Innenstadt, ihren Kindern malten sie die Nasen rot an.

Ob sie sich damals den Weg in die eigene Arbeitslosigkeit ebneten? Die Unternehmer waren dem Druck ihrer Arbeiterinnen nicht gewachsen, bauten Fenster, kauften verstellbare Stühle. Am Ende des historischen Rundgangs steht eine große Weltkarte - das Aus für die streitbaren, kostenungünstigen Ruhrgebietsnäherinnen. MIRIAM BUNJES

Die Ausstellung „Arbeit an der Mode“ steht bis zum 4. April in der flora, Florastr.26, Gelsenkirchen. Zum Thema finden außerdem folgende Veranstaltungen statt: Montag, 15. März, 19.30 Uhr, Vortrag „Die Angst vor der Uniformität“, Montag, 22. März, 19.30 Uhr, Vortrag „Todschicke Kleidung zu welchem Preis?“, Samstag, 27. März, 14 Uhr, Stadtrundfahrt zu ehemaligen und noch bestehenden Standorten der Bekleidungsindustrie, Anmeldung unter 0209/169 - 2549, Montag 29. März, 19.30 Uhr, Vortrag „Schlimmer als der Bergbau“