berliner szenen Die Macht der Steppe

Der Wolf ist gelandet

Das Flugzeug von Paris Charles de Gaulle nach Berlin-Tegel landet pünktlich um 21.25 Uhr. Der Captain bedankt sich, dass wir mit Deutsche Lufthansa geflogen sind und wünscht einen guten Aufenthalt in Berlin. Draußen sind 20 Grad, der Himmel ist klar. Der Sommer liegt in der Luft, schon Anfang Mai. Langsam gleiten wir über das Rollfeld in Richtung Terminal, dem neu angelegten Quader rechts neben dem tegeltypischen Achteck. Plötzlich sitzt ein Wolf keine 30 Meter vom Flugzeug entfernt vor einem Hangar, während das Bodenpersonal am Bug einer Boeing herumschrubbt. Was für ein großartiges Bild, welch erhabene Romantik: ein Wolf, von flutlichthellen Scheinwerfern gebannt, mit denen der Jet bei der Nachtarbeit angestrahlt wird. Wieder und wieder starre ich wie blöd aus dem Fenster der Maschine. Was geht hier vor? Bin ich schon irre? Übermüdet? Oder gar Hanns Zischler? Dem soll, das stand mal in der Sonntags-FAZ, am 6. Mai 2001 in einer klaren, milden Vollmondnacht ein Wolf in Stockholm begegnet sein.

Gerne würde nun auch ich allen anderen im Flieger laut zurufen, was sich da draußen vor ihren Augen ereignet. Wunder der Natur, ach was, Ausdruck unserer Zeit mit all ihren spätkapitalistischen Versteppungen – jeder soll wissen, dass es Wölfe mitten in Berlin gibt! Doch schon den hinter mir sitzenden Passagieren ist meine Entdeckung egal, zu sehr sind sie in Gespräche über Neurologenkongresse vertieft, müssen E-Mail-Adressen und Visitenkärtchen austauschen. Dann eben nicht, dann ist die einmalige Chance vertan. Ich guck noch mal, da ist er weg. War es nur Traum, die Macht der Fantasie, unter die sich die Phänomene fügen? Nein, keine Frage, Höge hat Recht. Die Wölfe sind in Berlin angekommen. HARALD FRICKE