Als die Welt auf Aurich schaute

Vor 100 Jahren bekam der Lebensphilosoph Rudolf Eucken den Literaturnobelpreis verliehen. In seiner Heimatstadt Aurich ist Eucken fast vergessen. Zu Lebzeiten dagegen stach er einmal sogar Friedrich Nietzsche aus, der sich dafür posthum rächte

Ostfriesland ist nicht gerade reich an Persönlichkeiten mit internationalem Renommee. Otto Waalkes und Karl Dall sind augenblicklich die wohl prominenteste Vertreter dieses Landstriches, dann gibt es noch den Regisseur Wolfgang Petersen.

Sucht man große Namen, muss man ansonsten in die Vergangenheit blicken – und landet beim Philosophen Rudolf Eucken, der als erster und bislang einiger Ostfriese genau vor einhundert Jahren, am 8. Dezember 1908, den damals noch jungen Nobelpreis für Literatur entgegennahm. Zu dieser Zeit lehrte Eucken bereits in Jena, in Aurich war er jedoch zur Schule gegangen. Der Literarische Schülerkreis seines Gymnasium, der auf Initiative von Eucken gegründet wurde, führt ihn noch immer als Mitglied Nr. 1. Und bis in die 1980er Jahre hinein lobte der stadtbekannte Anwalt Schapp für den besten Deutschschüler Aurichs einen Rudolf-Eucken-Preis aus. Mit dem Tod des Anwalts starb allerdings der Preis.

Dass der Nobelpreis überhaupt nach Ostfriesland kam, verdankte sich glücklichen Umständen. Eucken hatte in Schweden einen enthusiastischen Förderer, den Göteborger Professor Vitalis Nörstrom, mit dem Eucken später auch befreundet war. Nörstrom war es, der Eucken für den Nobelpreis vorschlug. Dass der ihn letztendlich auch verliehen bekam, lag an einem Streit innerhalb der Jury. Eine Fraktion im Komitee favorisierte den damals sehr populären Dichter Algernon Ch. Swinburne, die andere Seite Selma Lagerlöf, die mit dem Jugendbuch „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgerson auf dem Rücken der Wildgänse“ berühmt geworden war. Als Kompromiss einigte man sich auf Rudolf Eucken.

Eucken war zwar kein Literat, aber immerhin ein publizistisch umtriebiger Idealist und entsprach so am ehesten der testamentarischen Verfügung Alfred Nobels, Wissenschaftler „idealistischer Gesinnung“ auszuzeichnen. „Rudolf Eucken konnte in puncto Stilistik mit später Geehrten keineswegs mithalten“, bestätigt der Eucken-Kenner Hermann Lübbe. Wie Eucken besuchte er das Auricher Gymnasium, heute ist er Professor für Philosophie in Zürich.

In der Begründung des Komitees für die Wahl von Eucken kommt ein Talent für schöne Texte sicherheitshalber auch gar nicht vor. Die Verleihung erfolge „in Anerkennung seines ernsthaften Suchens nach der Wahrheit, der durchdringenden Kraft der Gedanken, der Weite seines Blickfelds, der Wärme und Eindringlichkeit der Darstellung, womit er in seinen zahlreichen Arbeiten eine idealistische Lebensphilosophie gerechtfertigt und weiterentwickelt hat“, schrieb das Komitee.

Schon vor der Preisverleihung hatte Eucken eine bemerkenswerte Karriere als Wissenschaftler gemacht. Nachdem er 1866, mit 20 Jahren, folgte er 1871 einem Ruf als Philosophieprofessor nach Basel. Nietzsche, zu der Zeit schon als Philologe in Basel beschäftigt, hatte sich universitätsintern in einem fast schon wehleidig zu nennenden Brief ebenfalls auf die Stelle beworben und sogar mit Kündigung gedroht, falls seine Bewerbung kein Gehör finden sollte. Allerdings verließ die Bewerbung nie den Schreibtisch des zuständigen Beamten Vischinger-Bilfinger. Dieser hielt es wohl für unwahrscheinlich, dass die Bewerbung an der Universität überhaupt ernst genommen werden würde. Nietzsche rächte sich posthum mit dem Schatten, der heute über Eucken und seinen Werken liegt.

Zu Euckens Lebzeiten sah das anders aus. Das erste Buch, das er nach seinem Wechsel nach Jena verfasste, die 1878 erschienene „Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegenwart“, machte ihn zu einem populären Vertreter der so genannten Lebensphilosophie. Anders als sein ebenfalls in Jena lehrender Gegenspieler Ernst Haeckel, der als Anhänger der Darwin’schen Evolutionstheorie den Menschen auf seine rein naturwissenschaftliche Funktion reduzierte, war der Mensch für Eucken genauso ein soziales und spirituelles Wesen. Für Eucken war auch klar, dass Philosophie nicht in einem goldenen Käfig stattfinden dürfe, sondern lebenspraktisch sein solle – eine Denkart, die Ostfriesen, gehässig in Witze verpackt, bis heute nachgesagt wird. Dieser Sinn für das Praktische, gepaart mit dem Wunsch, alles könne ein wenig besser sein, überzeugte die Jury und machte Eucken zu einem geeigneten Kompromisskandidaten.

Erst kurz vor seinem Tod 1926 besuchte Eucken Aurich wieder und hinterließ an seiner alten Schule, dem Ulricianum, ein handsigniertes Porträt. Nach einer sabotierten Restauration durch die Auricher Kunstlehrer – sie hatten dem Portrait aus Jux lila Haare verpasst – verschwand es auf ewig in den Katakomben der Stadtverwaltung. Bis heute ist es eine Kopie, die die Schulräume ziert.

Eucken, der in Jena begraben liegt, wird in Aurich noch ab und zu vom dortigen Museum gewürdigt. Zum hundertsten Jahrestag der Nobelpreisverleihung hat das Ulricianum eine Veranstaltung organisiert, zu der nicht nur der Eucken-Kenner Lübbe, sondern auch Euckens Enkelin Marianne eingeladen waren.

In der Vergangenheit war es vor allem der demokratische Politiker Karl Anklam, in den Jahren 1924 bis 1933 sowie 1945 / 1946 Bürgermeister in Aurich, der sich um das Eucken’sche Andenken kümmerte. Er setzte durch, das man die größte und breiteste Straße in Aurich, der „Neue Weg“, in „Rudolf-Eucken-Allee“ umbenannte – und dass auf dem Friedhof, an prominenter Stelle zwischen den Mausoleen, ein Gedenkstein an Eucken erinnert. In seinen 1921 veröffentlichten Lebenserinnerungen hat es Eucken geschafft, in einem Kapitel über Ostfriesland auf zwei Seiten sechsmal das Wörtchen „eigentümlich“ unterzubringen. Den Aurichern ist zu wünschen, dass das irgendwie freundlich gemeint war.

Beide damaligen Gegenkandidaten übrigens dürften sich ob ihrer Niederlage nicht allzu lang gegrämt haben: Swinburne verstarb kurz darauf und Lagerlöf bekam 1909 den Nobelpreis verliehen – als erste Frau überhaupt.

WILKO STEINHAGEN