Lehrreiches aus dem Archiv

Zum 50. Mal trat Jürgen Kuttner mit seinem Videoschnipselvortrag in der Volksbühne auf. Ein rundum gelungenes Jubiläum. Vor allem als der Moderator selbst im Beuyskostüm den Hit „Wir wollen Sonne statt Reagan“ variierte

Kollege Kuttner ist super. Vor der Wende hat der Kulturwissenschaftler über „Begriff und Problem der Masse in der ideologischen Auseinandersetzung auf kulturellem Gebiet“ promoviert, war zwei Jahre lang stellvertretender Abteilungsleiter im Verband Bildender Künstler der DDR, hat nach der Wende zusammen mit seinem Kumpel André Meier die Ost-taz gegründet, avancierte zum Kultmoderator im Radio und ist seit 1996 auch in der Volksbühne zu Hause.

Damals feierte die Volksbühne den siebenten Jahrestag des Mauerfalls und lud Kuttner ein, das Wiedervereinigungsevent mit lustigen Ost-West-TV-Ausschnitten aufzupeppen. Die Videoschnipselvorträge gingen in Serie und wurden zu einem großen Erfolg. Vielleicht auch deshalb, weil die daran enthaltenen quasi prä-ostalgischen Elemente damals noch nicht in Massen hergestellt wurden; weil Kuttner nicht pointenorientiert sprach, sondern sich gern in Abschweifungen verhedderte; vor allem auch, weil er erkannte, dass mit der DDR ja auch der Westen untergegangen war; dass Fernsehausschnitte aus dem Westfernsehen also nicht weniger seltsam vertraut, fremd und deshalb lehrreich wirken, wie dergleichen aus dem Osten.

Die Abende des westkompatiblen Ost-Identitators waren und sind zugleich Schulung und Unterhaltung. Auf zweieinhalb Stunden Reden zu weit gefassten Themen (Schlager, Mode, Fernsehen, Schweiz im letzten Herbst, als Ostalgie zum Mainstream geworden war) kommt eine halbe Stunde Fernsehausschnitte, die Kollege Meier ausgegraben hat. Schöne, lehrreiche, lustige Ausschnitte, die viel leisten für eine Theorie der in Fernseharchiven herumschimmelnden kollektiven Erinnerung; Nachrichten aus der Frühzeit des Mediums, als die Klonung der TV-Personalitys noch in den Kinderschuhen steckte und Leute im Fernsehen so rauchten wie heutzutage nur noch Junkies. Jedes Mal beendet Kuttner seine Abende mit einem kultigen Wahlkampfspot der Grünen aus den frühen 80er-Jahren, in dem der von ihm verehrte Joseph Beuys als falscher Mann mit falscher „Band“ (BAP), am falschen Ort das Lied „Wir wollen Sonne statt Reagan“ singt und dabei ganz eigene Qualitäten im Grundfalschen entwickelt.

Vergangenen Freitag fand jedenfalls der 50. Videoschnipselvortrag in der wie immer ausverkauften Volksbühne statt. Es war nur ein bisschen anders als sonst. Kuttner trug eine Trainingsjacke mit der Aufschrift „Schwedt“. Wer ihn eine Weile nicht gesehen hatte, dachte: „Mensch, der ist ja noch besser geworden.“ Außer Kuttner und Meier war auch die Volksband der Volksbühne auf der Bühne, den Jubilar zu ehren und ihre Version der wunderschön seltsamen 60er-Jahre-Musikausschnitte nachzuspielen, die Kuttner präsentierte.

Cindy und Bert sangen eine deutsche Version des Black-Sabbath-Evergreens „Paranoid“. Begleitet von einem etwa 50 köpfigem Orchester trällerte die 15-jährige Marianne Rosenberg ihr „Mister Paul McCartney“. Sehnsüchtig kam Alexandras „Zigeunerjunge“ daher, und recht schräg wirkte eine gewisse Margret Führer, als sie bei der Grand-Prix-Eurovisions-Vorentscheidung in Baden-Baden vom „Gimmel, Gummel, Gammel-Shake“ sang. Manchmal grandios ins Punkige gehend, interpretierte die Volksband die Vorlagen, ohne zu überholen. Bernhard Schütz, der Schauspieler, trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „Wild to be born“, begeisterte mit seiner A-capella-Interpretation eines Liedes aus der anrührend debilen westdeutschen „Hair“-Version.

Höhe- und Endpunkt des Abends war Kuttner selber, als er im Beuyskostüm, das Mikrofon um sich herumschleudernd „Wir wollen Sonne statt Reagan“ variierte. Tosender Applaus für eine super Abend. BHs und Höschen flogen tatsächlich auf die Bühne.

DETLEF KUHLBRODT