terror und alltag
: Die Zeit der Unschuld ist vorbei

Hätte es nicht die furchtbaren Anschläge gegeben, erinnerte vieles an den 15. Februar 2003. Vor etwas mehr als einem Jahr waren Millionen Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den drohenden Irakkrieg zu protestieren. Auch in Spanien. Viele dieser Demonstranten waren auch in den vergangenen Tagen wieder auf den Beinen, nur dass es diesmal nicht gegen etwas zu demonstrieren galt, das drohte, sondern gegen etwas, das stattgefunden hat.

KOMMENTAR VON UWE RADA

Dazu gehören nicht nur die 200 Toten in den Vorortzügen der spanischen Hauptstadt, sondern auch die Informationspolitik der spanischen Regierung. Wer die ETA noch zu einem Zeitpunkt für schuldig erklärte, an dem sich längst die Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund erhärtet haben, handelte nicht anders als zu Zeiten des gemeinsamen Waffengangs mit George W. Bush. Damals war es die Lüge von den Massenvernichtungswaffen, heute ist es die – wahrscheinliche – ETA-Lüge.

So sehr einen die Bilder der spanischen Demonstranten vor den Parteigebäuden der Partido Popular auch berühren, so trügerisch sind sie zugleich. Parolen wie „Euer Krieg, unsere Toten“ sind auch hilflose Versuche, dem Unbegreiflichen im Nachhinein eine Rationalität zu verleihen, das es in Wirklichkeit gar nicht mehr hat. Die Selbstsuggestion der Demonstranten gegen die Regierung lautet: Wäre Aznar nicht Seit an Seit mit Bush gestanden, hätte es die Toten von Atocha nicht gegeben.

Schauen wir womöglich mit soviel Sympathie auf diese Demonstranten und den Ausgang der Wahl in Spanien, weil wir selbst gern an Hoffnungen wie diese glaubten? Glauben wir hier in Berlin, dass der nächste Anschlag eher in London, Rom und Warschau als in der deutschen Hauptstadt stattfindet? Nur: Welches Europa wäre es, in dem Massenmörder bestimmen, wer sich wo wie sicher fühlen darf? Und: Hatte nicht die Türkei Anschläge zu beklagen, obwohl sie den US-Soldaten die Durchmarschrechte versagt hatte?

Vieles spricht dafür, dass mit dem 11. März auch in Deutschland und in Berlin die „Zeit der Unschuld“ vorbei ist. Anschläge wie in Madrid sind zwar nicht wahrscheinlicher geworden, weil es für die Irrationalität keinen statistischen Algorithmus gibt. Aber die „gefühlte Möglichkeit“ ist gestiegen. Viele erleben es, wenn sie sich in Zügen und auf Bahnhöfen beim Gedanken ertappen: „Was wäre, wenn?“

Gerade da können wir aber viel lernen von den Demonstranten in Madrid. Nicht nur von denen, die gegen die Regierung auf die Straße gingen, sondern auch von den zwei Millionen vom Freitag. Sie alle haben gezeigt, dass sie ihr Schicksal nicht den anderen überlassen, weder den Terroristen, noch denen, die aus ihnen Kapital schlagen wollen. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft für Berlin. Auch wenn wir unsere „Unschuld“ verloren haben: In den nächsten Wochen werden wir auch hier viel an unserer Freiheit zu verteidigen haben. Vielleicht sogar mehr, als uns lieb ist.