zuckerwatte im kopf von RALF SOTSCHECK
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Die Sache beruht auf einem Missverständnis. Die Briten glauben, mehr Schokolade zu essen als alle anderen europäischen Nationen. Die kleinen, steinharten Täfelchen des bekanntesten britischen Herstellers fehlen in keinem Laden. Was die Briten aber für Schokolade halten, darf diese Bezeichnung nur aufgrund einer Sondergenehmigung der Europäischen Union führen: Die Firma verwendet Ersatzstoffe statt Kakaobutter.

Wenn das bräunliche britische Lieblingsprodukt wenigstens genießbar wäre! Aber sie injizieren die Schokoersatzhülsen mit garstigen Füllungen – zum Beispiel mit einer Bonbonmasse, die schmeckt, als ob der Chefchemiker sie vorgelutscht hätte. Sie nennen diese Karieskugeln „Pralinen“. Beim englischen „Kuchen“ sieht man zumindest, worauf man sich einlässt, denn die grellen Farbkompositionen haben genügend Ähnlichkeit mit Chemiewarnschildern. Doch englische „Pralinen“ sind kulinarische Zeitbomben, sie richten ihre Verheerung an, wenn man nicht damit rechnet.

Bei der Debatte um die Staatsbürgerschaft für ausländische Mitbürger stellte die „Zeitung“ Sun neulich zehn Punkte auf, die die britische Identität am besten verkörpern. Ganz oben stand Zuckerwatte. So kann man die Zahl der Antragsteller drastisch reduzieren: Bevor sie anglisiert werden, müssen sie einen Ballon dieser Zuckerwaffe verspeisen.

Zu den erträglicheren britischen Vorlieben gehört Kit Kat. Diesen Riegel gibt es in vielen Ländern, aber die Briten essen davon 47 Stück pro Sekunde. Das sind mehr als vier Millionen am Tag und fast anderthalb Milliarden im Jahr. Die Produktion eines einzigen Tages hätte aneinander gereiht die Länge des gesamten Londoner U-Bahnnetzes.

Der Name des Riegels stammt angeblich von einem konservativen Literaturclub aus dem 18. Jahrhundert, der in einem Gebäude mit so niedriger Decke residierte, dass die Gemälde in der Mitte durchgebrochen werden mussten, damit sie an die Wand passten – genau wie Kit Kat durchgebrochen werden muss, damit es in den Mund passt.

Den Briten scheint neuerdings der Appetit vergangen zu sein. Kit Kat registrierte im vorigen Jahr einen Umsatzrückgang von 5,4 Prozent. Der Hersteller, der Schweizer Multi Nestlé, ist besorgt. Schließlich hatte man den nordenglischen Konkurrenten Rowntree 1989 allein wegen dessen Kit Kat aufgekauft.

Schon Winston Churchill pries den 1935 erfundenen Riegel während des zweiten Weltkriegs als „gesundes und billiges Nahrungsmittel“.

Um dem Kriegsriegel wieder auf die Beine zu helfen, hatte die Sun eine Idee. Vorigen Freitag berichtete die „Zeitung“ in einem Werbefeature über den „Kit-Kat-Kode“.

Die Körperspracheexpertin Judi James enthüllt auf einer Doppelseite die neun Typen der Riegelesser. Für den Leseunkundigen stellen enthüllte Frauen das Riegelessen nach. Höhepunkt ist der „Doppelakt“: Natasha isst ein Kit Kat und liest dabei die Sun. „Dieser Riegeltypus hat ein unglaubliches Gespür für sinnliche Vergnügen“, meint die Expertin: „Kit Kat essen und dabei die Lieblingszeitung lesen. Was will man mehr?“ Vielleicht Schokolade statt Kit Kat, eine Zeitung statt der Sun und Hirn statt Zuckerwatte?