Sturmtief im Klassenkampf

Hannover 96 belagert am Ende mit zehn Angreifern das eingeigelte Team des 1. FC Kaiserslautern, verliert aber dennoch mit 0:1. Neu-Trainer Ewald Lienen ist trotzdem entspannt optimistisch

AUS HANNOVER DIETRICH ZUR NEDDEN

„Lassen Sie sich überraschen!“ Ewald Lienen lächelte entspannt, als er vor seinem Debüt als Trainer von Hannover 96 gefragt wurde, ob man ihn mit seinem Markenzeichen, den Zetteln, erleben würde. Und tatsächlich verzichtete der Mann, der nie ohne das Adjektiv „akribisch“ charakterisiert wird, während des Spiels gegen den 1. FC Kaiserlautern auf das papierene Speichermedium in der Hand. Überhaupt zeigte er sich moderat, geduldig und humorvoll in den ersten Tagen seines Engagements bei einem Verein, der innerhalb von wenigen Wochen in den engsten Kreis der Abstiegskandidaten vorgestoßen ist. Der 50-Jährige scheint entschlossen, das Erscheinungsbild, das von ihm kursiert, zu modifizieren, ohne sich von seinen Überzeugungen zu verabschieden.

Da wäre zum Beispiel die Forderung nach Disziplin und Konzentration. Spürbar hatte sich seine neue Mannschaft diese Maximen angeeignet oder, um eine andere Lesart zu benutzen: die Blockade war gelöst, von der Ralf Rangnick gesprochen hatte, der nach der dritten Niederlage in Folge entlassene Aufstiegstrainer. Rangnick, dessen Abschied beinahe irritierend nobel und ehrenhaft vonstatten gegangen war, hatte vor dem Spiel in einer SMS an den Fanbeauftragten um „volle Rückendeckung“ für die Mannschaft und den neuen Trainer gebeten.

„Zielgerichtet“, eine Lieblingsvokabel des Vorstandsvorsitzenden Martin Kind, strebten die Roten, nach Monaten wieder mit der Identifikationsfigur Altin Lala, von Beginn an Richtung Lauterer Tor, hatten gute Möglichkeiten und sogar beste Chancen, meist über Idrissou auf der linken Seite. Idrissou war es übrigens, auf den sich die Wut derjenigen Fans konzentrierte, die der Mannschaft vorwerfen, Rangnick im Stich gelassen zu haben. Als der Name des Kameruners bei der Bekanntgabe der Aufstellung aus den Lautsprechern drang, waren nicht nur die bei diesem Ritual üblichen Jubelgesänge zu hören, sondern auch lautstarke Pfiffe.

Nach der Halbzeit verstärkte 96 den Druck, aber die etwas schematisch wirkenden Bemühungen stellten die Lauterer vor keine größeren Probleme. Seitdem Kurt Jara den Job von Eric Gerets übernommen hat, haben sie die Liebe zum Minimalismus entdeckt. Der Provinzklub sagt Ja zum digitalen Zeitalter, zum binären Zahlensystem: Zwei 0:1-Niederlagen stehen nunmehr vier 1:0-Siege gegenüber.

Der jüngste ergab sich plötzlich und völlig unerwartet: Bjelica schlug aus der eigenen Hälfte einen hohen Ball Richtung hannoverschem Strafraum zu Hristow, dem Keeper Ziegler entgegeneilte. Das war im Prinzip nicht verkehrt, nur vergaß er, die Beine zusammenzuhalten, so dass der Ball unter ihm durchschlüpfte.

Kurz darauf wechselte Jara nacheinander Tschato und Mettomo ein, die Nationalmannschaftskollegen von Idrissou, und Kaiserslautern beschränkte sich nun auf die aus den Asterix-Heften vertraute Schildkröten-Taktik der römischen Kohorten, war damit allerdings letztlich erfolgreicher als die Vorbilder aus der Antike. Es stehe ihm nicht zu, sagte Lienen hinterher, das Spiel von Kaiserslautern „moralisch zu bewerten“, und es sei am Ende „legitim, wenn man den Weg wählt, sich hinten einzuigeln“.

Lienen seinerseits brachte unmittelbar nach dem Tor Brdaric und Stendel und 96 hatte damit vier Angreifer auf dem Platz, nein, eigentlich zumindest phasenweise ungefähr zehn, denn kollektiv stürmte Hannover nach vorne, erst recht in den letzten fünf Minuten, nachdem Knavs die rote Karte erhalten hatte. Das Resultat der vereinten Kräfte waren zwei Pfosten- und ein Lattentreffer, und wenn es nicht der Rahmen war, der Kaiserlautern den Auswärtssieg rettete, war Torhüter Wiese zur Stelle.

Jara sprach später von dem „nötigen Glück, das wir in den letzten beiden Spielen nicht hatten“, Lienen betonte, dass er mit dem Auftreten seiner Mannschaft zufrieden war: „Ich bleibe dabei: Wenn sie so spielt wie heute, hat sie sehr gute Chancen, die Klasse zu erhalten.“ In der Tat sah es am Ende so aus, als ob 96 für den „Klassenkampf“, den Vereinschef Kind während der Vorstellung des neuen Trainers gleich zwei Mal beschwor, gerüstet ist. Kaiserslautern, um nur einen der anderen Mitbewerber zu nennen, aber auch.