Jetzt neu: Flächen schaffen ohne Waffen

Intensitäten, von denen man 68 geträumt hat: Stereolab verarbeiteten in der Maria brechtisches Moritatenflair und Flugblattparolen zu einer angenehm swingenden Sozialutopie. Das Publikum köchelte wie Wachs in einer Lavalampe

„Ich kann pfeifen, ich kann pfeifen“, singt vorne in der Schlange vor der Maria ein Grüppchen Skandinavier, das sich die Wartezeit mit alten Grips-Theater-Hits vertreibt. Hinten fragt ein Amerikaner zögerlich bei einer Frau nach, ob sie Englisch spreche, aber die ist mit ihrem Handy beschäftigt und antwortet nicht. Irgendwann bekommen die Skandinavier von einer Freundin Besuch, deren Deutsch einen Stich ins Spanische hat, während sie erzählt, dass alle bei Four Tet, dem in Hamburg lebenden britischen Laptop-Bastelrocker, auf der Gästeliste stehen. So hört man die Signale, wenn danach drinnen Four Tet mit seinem Computer vor allem mörderisch viel Clicks ’n’ Krach macht, und freut sich, dass sich in Zeiten von Mia die Internationale im Berliner Nachtleben durchgesetzt hat.

Auf der Bühne wird das Anliegen später bei Stereolab auch politisch geerdet. Das achtköpfige Kollektiv, das 1991 in England gegründet wurde und heute zwischen Chicago, London und Frankreich pendelt, mischt allerlei Marxismen und situationistische Spektakelkritik in die Songtexte: Auf der eben erschienenen Platte „Margerine Eclipse“ geht es unter anderem um den Verlust von öffentlichem Raum und darum, dass jede Relevanz nur in der Aktion liegen kann. Sängerin Laetitia Sadier hat sich voriges Jahr noch weiter aus dem Fenster gehängt und ihr unter dem Namen Monade veröffentlichtes Album „Socialisme ou Barbarie“ genannt, als Erinnerung an die gleichnamige linke Pariser Zeitschrift, die im Algerienkrieg 1964 über die Legitimität von gegenstaatlicher Gewalt stritt.

Das hört sich nach Flugblatt an, wird bei Stereolab allerdings zu einem angenehm swingenden Club-Diskurs verarbeitet. Man hört die eingängigen Slogans, die Sadier mit strenger Altstimme wie brechtische Moritaten vorträgt; aber nebenher bläst eben auch ein aufgerauter Up-Tempo-Beat, brummt der Bass in den Knochen und aus dem elektronischen Baukasten wirbelt ein wunderschöner Melodienzauber durch den Kopf. Viel passiert und alles gleichzeitig: Ein Waldhorn nimmt rechts am Bühnenrand eine Phrase auf, würfelt sie von einer Tonart in die andere und reicht den Klang dann zu Sadier hinüber, die auf einer Posaune noch ein paar dumpfe Hickser nachhallen lässt.

Für Improvisationsjazz sind Stereolabs Stücke zu passgenau auf die sich wiederholenden Pattern geschnitten, von den häufig zitierten Krautrock-Vorbildern trennt sie wiederum ein unverpanschter Wille zum Stil. Kein Solo stört die filigran montierten Harmoniefolgen, nirgends wird der Break zum Angebertum, nichts geht ohne Teamspirit. In der Architektur hat das Bauhaus für diese Herangehensweise die Losung „Form follows function“ ausgegeben, bei Stereolab folgt die schöne Form den sozialutopischen Entwürfen von House und Disco – Flächen schaffen ohne Waffen.

Getanzt wird trotzdem kaum. Stattdessen stehen die Leute wie unter einem Bann und federn höchstens mal als Teil der massiven Soundmaschinerie mit. Erst nach einer Stunde werden die Körper allmählich warm, lösen sich aus dem Fanblock vereinzelt kreisende Arme, bis das Publikum am Ende wie Wachs in einer Lavalampe köchelt. Auf diesen Schub der Energie und der Verzückung scheinen auch Stereolab gewartet zu haben: Flugs schwellen die geometrischen Schichtungen in Sachen Postrock noch mehr an, wechselt Bandleader Tim Gane immer schneller zwischen Orgel, Gitarre und Trompete hin und her. Über der Bühne flackert das Licht grün und blau, auf kurzen, aber unentwegt sich ineinander schiebenden Wellen. Das sind die Intensitäten, von denen man 1968 geträumt hat. Heute kann man damit gegen all die neudeutschdoofe Eighties-Chose selbst in Berlin ganz gut glücklich werden. HARALD FRICKE