Dealer und Kunden

Freizeitgestaltung im Gefängnis Tegel mit dem Gefängnistheater aufBruch und der Collage „Einsatz“: Günther Kaufmann, bekannt aus Film, Fernsehen und der „Bild“-Zeitung spielt ohne alle Starallüren seine wahrscheinlich beste Rolle seit langem

von ANNETT GRÖSCHNER

Besucht man eine Vorstellung des Gefängnistheaters aufBruch, ist nicht so ganz klar, wo die Vorstellung beginnt und wo sie endet. Und wie im Gefängnis gibt es auch unter den Besuchern die „Neuen“, die zum ersten Mal hier sind und sich schon auf dem mit einer sechs Meter hohen Mauer gesäumten Gang zum Gefängnistor fragen, worauf sie sich da eingelassen haben. Die Stammzuschauer dagegen lassen kein Stück des Ensembles aus. Sie gehen ins Gefängnis wie ins Deutsche Theater, nur dass man im Hof von Tegel jede Bürgerlichkeit in vom Wetter verschandelte Spinde schließen muß. Verboten sind Taschen, Handys, Geld, gebrauchte Taschentücher, und auch Journalisten dürfen erst nach eingehender Prüfung Stift und Papier „einführen“. Eigentlich ist nichts erlaubt, außer der Kleidung. Der Pass wird gegen eine rote Besucherkarte getauscht. Sie ist die Rückversicherung ins bürgerliche Leben. Danach gibt es akribische Körperkontrollen, strenger als auf dem nahe gelegenen Flughafen Tegel. Das ist das „Vorspiel auf dem Theater“.

Tegel ist eine Parallelwelt, eine Stadt in der Stadt, oder wie die polnische Schriftstellerin Magdalena Tulli es formulierte, eine von zwei Vorstellungen, der man beiwohnt, wenn man in dieses Theater geht. Die die Prozedur überstanden haben, werden in einer Schleuse separiert. Dort können die „Mitgefangenen“ einander begutachten. An diesem Abend sind es die Mitglieder des Kulturausschusses des Abgeordnetenhauses. Bis auf einen sind nur die weiblichen gekommen, wahrscheinlich schien den Männern die Sache zu sozial, zu wenig kulturell, da sollen sich die Frauen drum kümmern. Sie täuschen sich mit beiden Annahmen. Mit der Bezeichnung Laientheater ist dieser Gruppe nämlich nicht beizukommen. Sie spielt hochprofessionell, mit vollem Einsatz und mitten zwischen den Zuschauern, die zur Hälfte aus Gefängnisinsassen und Gästen bestehen.

Die meisten der Schauspieler sind Gefangene für lange Zeit. Im Gefängnis gehen die Uhren langsamer. Theater kann ablenken von der Enge, die in diesem überfüllten Gefängnis herrscht. Aussperren lässt sich der Alltag nicht. Sieben öffentliche Vorstellungen hat die Justizvollzugsanstalt diesmal genehmigt, nicht viel nach einem Monat täglicher Proben. Mehr stößt an die Substanz der vom Sparzwang genauso wie jede andere betroffenen Einrichtung Berlins. Jede Vorstellung heißt mehr Arbeit für Vollzugsbeamte, von denen nicht jeder von der Sinnhaftigkeit des Theaters überzeugt ist.

Wurden in den vorherigen, von Roland Brus verantworteten Inszenierungen Geschichten erzählt, die immer auch etwas mit der Realität des Gefangenseins zu tun hatten, so geht die Regie von Peter Atanassow eher ins Formale. Das Beherrschende ist der Chor in der Tradition Einar Schleefs, aufgeteilt in zwei Gruppen, die zwei Personen im Stück verkörpern: Kunde und Dealer, Blau und Rot, einander gegengesetzte Spezies ohne gemeinsame Sprache oder Geschichte, die sich an einem Ort gegenüberstehen, der Flucht oder Gleichgültigkeit ausschließt. „Wenn Sie zu dieser Stunde an diesem Ort unterwegs sind, dann darum, weil Sie etwas wünschen, was Sie nicht haben …“, spricht der Chor der Roten und der Chor der Blauen antwortet: „Dass wir hier sind, ist völlig sinnlos.“ Bernard-Marie Koltès’ „Einsamkeit der Baumwollfelder“ ist die Grundlage der vom Gefängnistheater aufBruch erarbeiteten Collage.

Diesmal wird das Theater durch einen professionellen Neuzugang unterstützt: Günther Kaufmann, bekannt aus Film, Fernsehen und der Bild-Zeitung, Fassbinderdarsteller, liegt wie eine gefallene Puppe auf einer Munitionskiste, spricht von den ihrer Erinnerung beraubten Kreaturen und spielt ohne alle Starallüren seine wahrscheinlich beste Rolle seit langem.

Nach der Vorstellung fragte eine der kulturbeflissenen Damen ihn, ob er denn „draußen“ schon mal Theater gespielt habe, er sei doch wirklich so gut. Er grinst. AufBruch könnte sein längstes Engagement werden, wenn das Theater nicht mittlerweile in der Substanz bedroht wäre. Zu hoffen ist, dass der Kulturausschuss, der unbeschadet das Gefängnis verließ, da ein Wörtchen mitreden wird.

Zusätzliche Vorstellung am 23. 5. im Kultursaal der JVA Tegel, Seidelstr. 39. Letzter Einlass 18.10 Uhr. Vorverkauf mit persönlicher Anmeldung (Name, Adresse, Geburtsdatum) bis sieben Tage vor Vorstellungsbeginn nur an der Kasse des Hebbel-Theaters täglich von 16–19 Uhr.