Die sozialdemokratische Leere

Am Wochenende soll die Berliner SPD Schröders Agenda 2010, Privatisierungen und dem Abschied vom „Leistungsstaat“ zustimmen. Klaus Wowereit träumt sogar von Studiengebühren. Was bleibt noch sozialdemokratisch an der SPD?

Der erste Leitantrag hätte auch Hans-Olaf Henkel sehr gut gefallen

von ROBIN ALEXANDER

Der Landeverband der Berliner PD entscheidet am onnabend über die Reformagenda 2010 von Bundekanzler chröder. Außerdem timmen die ozialdemokraten über weitgehende Korrekturen ihre biherigen Programm ab. Die Genoen ollen unter anderem für die Privatiierung öffentlichen Eigentum und für ein neues taatverständni votieren. „Doch, da ist ozialdemokratisch“, äußerte ich der Voritzende Peter trieder. Ein Antrag bechäftigt ich außerdem mit der Einführung von tudiengebühren, die der Regierende Bürgermeiter Klau Wowereit fordert.

Moment. Da fehlt doch etwas. Das „S“. Dieser Buchstabe steht bei der SPD für „sozialdemokratisch“. Eigentlich. Doch viele Genossen fragen sich, was nach dem Landesparteitag vom Wochenende noch sozialdemokratisch an ihrer Partei ist.

Ursprünglich war das Treffen am Funkturm nur als harmloser „Kommunalpolitischer Landesparteitag“ geplant. Statt Beschlüssen zum Verhältnis von Bezirks- und Hauptverwaltung zu fassen, wird plötzlich um eine Richtungsentscheidung gestritten – ja um die Seele der Partei.

Anders als bei den extra eingesetzten vier Regionalkonferenzen wird auf dem Parteitag zum ersten Mal außerhalb von Führungsgremien über die Agenda 2010 nicht nur geredet, sondern abgestimmt. Damit der Sozialabbau in dreißig Punkten, mit dem der Bundeskanzler seine politische Zukunft verknüpft hat, auch auf jeden Fall legitimiert wird, kommt der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Franz Müntefering, persönlich.

Dabei gehören die Berliner doch zu den ganz zahmen Sozis: Am Mitgliederbegehren gegen die Agenda mochte sich kein Promi beteiligen. Außer in Friedrichshain-Kreuzberg, wo es den renitenten Kreisvorsitzenden Mark Rackles gibt, liegen die Unterschriftenlisten nicht einmal in den Parteibüros aus. Änderungsanträge, die auf eine sozial entschärfte Agenda zielen, gelten als chancenlos.

Die Delegierten werden also von Müntefering ins Gebet genommen und danach zähneknirschend für die Kürzung von Arbeitslosengeld und -hilfe, die Privatisierung von Krankengeld und die Teilabschaffung des Kündigungsschutzes stimmen.

Allein das wäre eigentlich schon genug Ärger für drei sozialdemokratische Parteitage: Aber am Sonnabend ist es nur der Anfang. In der entscheidenden Phase des Parteitages wird Annette Fugmann-Heesing ans Mikrofon treten. Die ehemalige Finanzsenatorin und geistige Urheberin aller Berliner Sparanstrengungen gilt in ihrer Partei als eine Mischung aus Maggie Thatcher und Katherina der Zweiten: kühl und intelligent, dabei sozial unempfindlich bis zur Grausamkeit. O-Ton Fugmann: „Die Staatsquote ist zu hoch. Der staatliche Schutz hat sich teilweise zu staatlicher Bevormundung entwickelt. Städtisches Wohneigentum in diesem Umfang brauchen wir nicht mehr.“ Diese Sätze stammen nicht aus einem Talkshow-Beitrag von Hans-Olaf Henkel, sondern – die Genossen glaubten es kaum – aus dem Entwurf zum Leitantrag, den Parteichef Strieder und sein Vorstand unbedachterweise Fugmann überließen. Der Inhalt, vor allem aber der Sprachduktus („Überregulierung“, „Rahmenbedigungen, die Leistung verhindern“, „staatsorientierte ineffektive Strukturen“) hätte wohl Guido Westerwelles Zustimmung gefunden – die SPD ist so weit noch nicht.

Deshalb ist von den Fugmann-Thesen so gut wie nichts mehr übrig. Andreas Matthae, 35-jähriger stellvertretender Vorsitzender, hat mit viel Mühe einen neuen Text gebastelt, der auch die Mehrheit der Fugmann-Kritiker einbindet. Matthae („Ich habe wärmer formuliert“) konnte die aufgebrochenen Kontroversen jedoch nicht mehr vollständig einfangen: Bei drei Punkten, die alternativ abgestimmt werden, muss die SPD am Wochenende Farbe bekennen.

1. Staatsverständnis: Die Modernisierer benutzen den Begriff „Gewährleistungsstaat“ in Abgrenzung zum „Leistungsstaat“. Die Linken fürchten diesen Rückzug des Staates.

2. Staatseigentum: Die Modernisierer sprechen sich für eine möglichen Verkauf weiterer öffentlicher Unternehmen aus. Die Linken stellen hingegen eine skeptischere Formulierung zur Abstimmung. Der linke Donnerstagskreis wird einen eigenen Antrag einbringen, der die Veräußerung von BVG, BSR und Wohnungsbaugesellschaften sogar explizit untersagt.

Zum ersten Mal wird über Schröders Agenda 2010 abgestimmt

3. Tarifpolitik: Die Linken wollen in den Leitantrag zum Thema öffentlicher Dienst hineinstimmen: „Lohn- und Gehaltskürzungen sind hier genau der falsche Weg.“

Der letzte Punkt birgt Sprengstoff: Die SPD würde praktisch das zentrale Projekt des rot-roten Senats, den Solidarpakt im öffentlichen Dienst, für falsch erklären. Ein Bärendienst für den Regierenden. Klaus Wowereit, so hat er durchblicken lassen, wird auf dem Parteitag an dieser Stelle selbst für seine Politik reden – und bei einer Niederlage die Beschlüsse wohl schlicht ignorieren. Ähnlich geht es seinem Bildungssenator Klaus Böger. Ihm könnte passieren, dass der Parteitag die Abschaffung der Lernmittelfreiheit verflucht, die Böger erst vor zwei Wochen ins Parlament eingebracht hat.

Die 270 Delegierten dürfen sich also in dieser Reihenfolge entscheiden: Gerhard Schröders Agenda oder ihre gute, alte sozialdemokratische Überzeugung. Klaus Wowereits Tarifpolitik oder die gute, alte sozialdemokratische Überzeugung. Klaus Bögers Schulpolitik oder die gute, alte sozialdemokratische Überzeugung.

Ausgerechnet Klaus Wowereit, der aus dem Roten Rathaus stets demonstratives Desinteresse an Parteiangelegenheiten bekundet, verhilft seinen Genossen vielleicht zu einem Stückchen sozialdemokratischer Restidentität.

Einen Antrag gegen seinen überraschenden Vorstoß für die Einführung von Studiengebühren wird die Partei unter dem Punkt Sonstiges ganz am Ende des Parteitages behandeln. Die Gebühr kann Berlin im Alleingang sowieso nicht einführen, diese Niederlage täte Wowereit nicht weh. Und die Genossen gingen nach Hause im Bewusstsein: Vom Sozialdemokratischen ist bei der PD doch mehr geblieben als eine Leerstelle.