Immer eine Fußspitze mehr

Mit beeindruckender Defensive und zielstrebiger Offensive legt Juventus Turin die Ballkünstler von Real Madrid lahm, gewinnt 3:1 und erreicht das Champions-League-Finale gegen den AC Mailand

von MATTI LIESKE

Um das aktuelle Wunderteam von Real Madrid aus dem Europapokal zu befördern, bedarf es einer ganzen Reihe von günstigen Fügungen: Fast perfekte Chancenverwertung, vorzügliche Defensive, eine Portion Glück, und wenn ein paar gegnerische Stars nicht ganz auf der Höhe sind, kann das auch nicht schaden. Vor zwei Jahren hatte das alles bei den Münchner Bayern funktioniert, jetzt klappte es bei Juventus Turin, das mit einem 3:1 vor 68.000 Zuschauern im Stadio delle Alpi die 1:2-Niederlage von Madrid mehr als wettmachte und ins Finale am 28. Mai in Manchester gegen den AC Mailand einzog. „Wir haben eine wunderschöne Partie gespielt, komplett aus allen Blickwinkeln“, schwärmte Juve-Trainer Marcello Lippi vollkommen zu Recht.

Umso mehr dürften den Coach jene Kommentare ärgern, die einen schlechten Tag der Real-Stars als Grund für den Turiner Sieg ausgemacht haben. „Wir haben gut gespielt“, analysierte Roberto Carlos, dessen Madrider Team in der zweiten Halbzeit unermüdlich attackierte. Wenn er selbst sowie Zidane, Figo oder Rekonvaleszent Raúl nicht zaubern konnten wie gewohnt, so lag das an der phänomenalen Defensive von Juventus Turin. Das Spiel könnte jederzeit als Schulungsvideo für Tacklings aller Art vertrieben werden und dafür, wie man selbst an raffinierteste Anspiele noch seine Fußspitze bekommt. Anders als Dortmund oder Manchester schaffte es der neue italienische Meister mit seiner schier undurchdringlichen Viererkette und den beiden Arbeitstieren Davids und Nedved, Reals filigrane Kombinationen schon tief im Mittelfeld zu stören.

Das war zugleich Gift für Reals viel geschmähte Verteidigung, obwohl diese längst nicht so schlecht ist wie ihr Ruf. Da aber bei Ballbesitz sehr viele Real-Spieler sehr weit aufrücken, sind frühe Ballverluste besonders prekär. Obwohl Trainer Vicente Del Bosque in Turin zunächst mit einer seltenen Viererkette versuchte, solchen Kontern gegen allein gelassene Verteidiger vorzubeugen, fielen alle drei Juve-Tore durch Trezeguet (12.), Del Piero (43.) und Nedved (73.) auf diese Weise. Dabei demonstrierten Turins Offensivkräfte in Perfektion die Kunst des schnellen Umschaltens von Abwehr auf Angriff. Gleichzeitig entlarvten sie schonungslos das Versäumnis von Real-Präsident Pérez, bei seiner Einkaufstour nicht ein paar Millionen für die Nachfolge des einstigen Abwehrbollwerks Fernando Hierro erübrigt zu haben. Der 35-jährige Kapitän mag zwar noch gut genug für die spanische Nationalmannschaft sein, für die höchste Klubebene reicht es jedoch schon seit mindestens zwei Jahren nicht mehr.

Alle Verteidigungs- und Angriffskunst hätte Juventus jedoch vermutlich nichts genützt, wäre nicht das Glück hinzugekommen, das sich den Turinern besonders geneigt in der 67. Spielminute zeigte. Da unterließ es der wie meist etwas bizarre Schweizer Schiedsrichter Urs Meier gegen jede Regel, dem Abwehrmann Montero nach seinem Strafraumfoul an Ronaldo die fällige gelb-rote Karte zu zeigen. Zudem ernannte Real ausgerechnet Luis Figo zum Strafstoßvollstrecker. Der Portugiese war in der Vergangenheit wiederholt als unzuverlässiger Elfmeterschütze aufgefallen und schoss den Ball prompt jämmerlich schlecht in Torwart Buffons Arme. Ohnehin ist es eine seltsame Sache, dass Real mit all seinen Weltstars keinen halbwegs sicheren Elfmeterschützen besitzt.

Allerdings wäre auch ein 1:2 zu diesem Zeitpunkt keine Garantie für Madrids Weiterkommen gewesen, denn wie gefährlich sie sogar in Unterzahl sind, hatten die Turiner zuletzt beim Viertelfinale in Barcelona bewiesen, wo sie in der Verlängerung triumphierten. Die letzte Aufregung musste Juve in der hektischen Schlussphase nach Zidanes spätem Tor zum 1:3 in der 89. Minute überstehen und durfte sich am Ende bei Raúl bedanken. Der sonst so coole Stürmer konnte nicht der Versuchung widerstehen, selbst zum Helden zu werden, und köpfte in der Nachspielzeit am Tor vorbei, anstatt den Ball dem heranstürmenden Helguera vorzulegen. Mit einem 2:3 wäre Real Madrid doch noch im Endspiel in Old Trafford gewesen. Ob verdient oder unverdient, diese Frage hätte sich kaum anders beantworten lassen, als es Vicente Del Bosque bezüglich des Juve-Triumphes tat: „Wenn sich eine Mannschaft in zwei Partien durchsetzt, dann verdient sie es auch.“