Blasser Mann aus der Provinz

Argentiniens designierter Präsident Néstor Kirchner ist kein Traumpolitiker. Der Vorteil des Provinzlers: Unauffälligkeit

Pünktlichkeit ist nicht seine allererste Tugend. Um 15 Uhr sollte der Charter-Jet abheben und ihn nach Brasilien fliegen. Um 16.30 Uhr ist von Néstor Kirchner am Stadtflughafen von Buenos Aires noch weit und breit keine Spur. Die Pressefrau wiederholt am Telefon immer wieder: „Um 15 Uhr fliegt er ab.“ Zum Glück trifft sich Kirchner erst am folgenden Tag mit Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva.

Smalltalk mit dem Präsidenten in Brasilien statt Wahlkampfreden in Argentinien – so sah Kirchners Taktik für die für kommenden Samstag geplante zweite Runde der Präsidentschaftswahlen aus. Sein innerparteilicher Rivale, der ehemalige Präsident Carlos Menem, ersparte ihm jedoch die Stichwahl, indem er vier Tage zuvor das Handtuch warf. Für Kirchner dennoch eine missliche Lage, denn damit nahm Menem ihm die Chance, in der Wahl den klaren Sieg zu erringen, der Kirchner in Umfragen vorhergesagt worden war. Die Meinungsforscher waren sich jedoch einig: Auch Kirchner ist nicht der Traummann der Argentinier – er wurde Menem gegenüber nur als kleineres Übel betrachtet.

Denn Kirchner hat in der argentinischen Politik bislang nicht für allzu viel Aufregung gesorgt. Seit 1991 regierte er als Gouverneur die in Patagonien gelegene Provinz Santa Cruz. Zuvor war er Bürgermeister der Provinzhauptstadt Río Gallegos, ein Nest, in dem Fernfahrer bei ihren Touren durch Patagonien zum Tanken halten. Von Río Gallegos sind es bis in die Metropole Buenos Aires genau 2.799 Kilometer. Für einen Politiker, der Präsident werden will, eine weite Strecke.

Aber Kirchner hatte die Rückendeckung des scheidenden Präsidenten Eduardo Duhalde. Der wollte – obwohl in der gleichen Partei der Peronisten – auf Biegen und Brechen verhindern, dass Menem noch einmal in den Präsidentenpalast einzieht, und unterstützte Kirchner im Wahlkampf nach Kräften.

Hilfe, die er dringend brauchen konnte. Denn Kirchner ist nicht der Politiker-Prototyp im caudilloverwöhnten Argentinien: Er schielt mit einem Auge, er lispelt und fuchtelt beim Reden wirr mit den Armen, als ob er gleich stürzen würde. Auch seine Sätze klingen erstaunlich schlicht: „Ich bin ein bescheidener Mann aus dem Süden, der Lust hat, dieses Land zu verändern.“

Doch in Santa Cruz hat er sich Respekt verschafft. Die Provinzfinanzen sind geordnet, die Wirtschaft brummt. Einerseits. Andererseits leben in Santa Cruz gerade 200.000 Menschen – gemessen an der Größe der Bevölkerung ist es die zweitkleinste Provinz des Landes. Und Santa Cruz hat Erdöl und damit eine sprudelnde Geldquelle. Kein Kunststück also, dort zu regieren. Um die am Boden liegende argentinische Wirtschaft in Schwung zu bringen, braucht es aber etwas mehr an Fantasie.

Aber gerade in der Wirtschaftspolitik zeigt sich Kirchner als Realist. Ununterbrochen redet er von einem „produktiven Nationalmodell“, will heißen: Stärkung der heimischen Industrie und Förderung der Exporte. Auf Freihandelsabenteuer mit den USA will sich Kirchner nicht einlassen. Er setzt auf den Handel unter Nachbarn und will mit Brasilien besser ins Geschäft kommen. Präsident Lula in Brasilia dürfte das freuen, predigt er doch schon lange, die lateinamerikanische Integration müsse vertieft werden. INGO MALCHER