Verkehrschaos im Großraum Paris

In Frankreich sind die Verhandlungen zwischen Arbeitsminister und Gewerkschaftschefs gescheitert. Die Streiks zur Verhinderung des Rentenabbaus gehen weiter, trotz Appellen der Gewerkschaftsspitzen zur Wiederaufnahme der Arbeit

aus Paris DOROTHEA HAHN

Mysteriöse Franzosen: Erst wählen sie einen rechten Präsidenten mit 82 Prozent der Stimmen. Dann gehen sie zu knapp 2 Millionen auf die Straße – gegen seine Politik. Und streikten auch gestern noch. Obwohl ihre Gewerkschaftsspitzen schon am Dienstagabend zur Wiederaufnahme der Arbeit aufgerufen hatten. Obwohl der überwältigende Teil der Medien über die angebliche „Geiselnahme“ der Öffentlichkeit schimpfte. Und obwohl es in Frankreich keine Streikkassen gibt und Streiktage lohnlose Tage sind.

„Ich schäme mich“, haben am Dienstag, dem ersten Tag der massiven Mobilisierung gegen den Rentenabbau, viele jener Demonstranten gesagt, die ein Jahr zuvor ihr Kreuzchen bei Jacques Chirac gemacht hatten. Zwei Tage nach ihrem ursprünglich nur für 24 Stunden angekündigten nationalen Aktions-, Streik- und Demonstrationstag waren gestern manche dieser Chirac-Wähler immer noch im Streik. Ihre Entschlossenheit war besonders groß, nachdem in der Vornacht die zehnstündigen Verhandlungen zwischen Arbeitsminister und Gewerkschaftschefs gescheitert waren. Der Minister hatte nur kleine Zugeständnisse gemacht, die selbst die kompromissbereiteste Gewerkschaft CFDT für unzulänglich hielt. Erschwerend kam hinzu, dass der Regierungschef unbeirrt von der massiven Protestbewegung seine „Entschlossenheit“ bestätigte. Und dass der Chef des Unternehmerverbandes mit hässlichen Worten gegen den Streik polemisierte: „Frankreich verarmt auf der Straße.“

Auch heute soll der Streik noch stellenweise weitergehen. Am größten war die Beteiligung gestern in den Pariser Verkehrsbetrieben, die schon oft als „Lokomotive“ von sozialen Bewegungen funktioniert haben, sowie in Schulen und Krankenhäusern im ganzen Land. Die Schulen und Krankenhäuser haben neben der allen Beschäftigten drohenden Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf bis zu 42 Jahre und Kürzung der Rentenbezüge noch zusätzliche Probleme: An den Schulen, die schon jetzt massive Sicherheitsprobleme haben, will Erziehungsminister Luc Ferry Anfang September tausende von Aufsichtsposten streichen. Und die Krankenhäuser leider unter einer Personalnot, die nur mit massiven Neueinstellungen bekämpft werden könnte. Letzteres will die Regierung nicht. Aus Spargründen.

Streik also. Und Chaos vor allem im Großraum Paris. Denn jene Hauptstädter, die nicht streiken, hatten sich zwar am Dienstag auf lange Fußwege eingestellt oder waren zu Hause geblieben. Aber am Mittwoch und gestern drängelten sie sich wieder auf den S- und U-Bahn-Steigen sowie an den Bushaltestellen. Eine Beförderung für sie gab es jedoch nur, wenn ein Streikbrecher vorfuhr. Auf dem Périphérique verkeilten sich hunderttausende in Blechlawinen.

Der Chef der größten französischen Gewerkschaft CGT, Bernard Thibault, sagte nachts um 4 Uhr, nachdem die Verhandlungen im Arbeitsministerium gescheitert waren, das Rentenkürzungsvorhaben der französischen Regierung sei eines der weitestgehenden in ganz Europa, und rief dazu auf, die Mobilisierung zu verbreitern. Sein Kollege Marc Blondel von der konkurrierenden Gewerkschaft FO kündigte an, er könne sich ebenfalls eine Verlängerung des Streiks vorstellen. Beide Gewerkschafter riefen zu einem neuen nationalen Aktionstag am Sonntag den 25. Mai auf. Lediglich François Cheréque von der CFDT zeigte noch in der Nacht neue Verhandlungsbereitschaft.

Besonders im Dienstleistungssektor droht mit den Rentenplänen der Regierung die massive Verarmung. Die Deregulierung der Arbeitszeit ist hier weit fortgeschritten, und ein großer Teil der mehrheitlich weiblichen Beschäftigten hat unfreiwillig Teilzeitverträge zu minimalen Löhnen. Viele Teilzeitbeschäftigte müssen sich nach den jetzigen Regierungsplänen auf Renten um rund 500 Euro einstellen.

Schon am Dienstag beteiligten sich mehr Beschäftigte aus der Privatwirtschaft an den Demonstrationen und vereinzelt auch den Streiks als bei der letzten großen sozialen Bewegung im Jahr 1995. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, dürfte er bei Regierungschef Raffarin und Arbeitsminister Fillon für Kopfschmerzen – und vielleicht auch eine größere Kompromissbereitschaft – sorgen.