Kürzungen oder eine Umverteilung der Lasten

Die staatlichen Einnahmen reichen nicht aus, um die Ausgaben zu finanzieren. Wie damit umzugehen ist, hängt vom politischen Standpunkt ab

BERLIN taz ■ Der Jammer ist groß. Berliner Taxifahrer frotzeln, dass an den Hauptstadt-Ampeln das grüne Licht nicht mehr repariert werde. Bald sei überall nur noch Rot und Gelb zu sehen, weil der Verkehrssenator sparen müsse. So ein Gerücht glaubt hier jeder. Keine deutsche Großstadt ist so pleite wie Berlin.

Doch nicht nur die Stadt an der Spree ist arm dran, sondern offenbar der gesamte Staat. Bester Beweis: die aktuelle Steuerschätzung. Wieder fehlen Milliarden, wieder muss der Bundesfinanzminister viel mehr Geld leihen als geplant. Aber ist der Staat tatsächlich so bedürftig, wie seine Vertreter erzählen?

„Kurzfristig betrachtet, ja“, sagt Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Im Augenblick steckten die Finanzminister von Bund und Ländern in der Klemme, denn die Steuereinnahmen würden auf breiter Ebene „erodieren“. Aber langfristig gesehen, so Bach, könne man den Staat nicht als arm betrachten.

Einen Beleg dafür, dass es der öffentlichen Hand heute nicht schlechter geht als in den goldenen 50er- und 60er-Jahren, ist die Entwicklung der Einnahmen. Während das Bruttoinlandprodukt (BIP) zwischen 1950 und 2002 auf rund das Vierzigfache stieg, erreichten die Steuereinnahmen das Fünfzigfache. Die Staatsquote – der Anteil des BIP, der durch staatliche oder öffentliche Mechanismen verteilt wird – ist auch gestiegen.

Während die Staatsquote in den Jahren des Wirtschaftswunders unter 40 Prozent lag, hat sie mittlerweile 48,5 Prozent erreicht. Dem Staat scheint es also immer gelungen zu sein, sich das Geld zu beschaffen, das er braucht.

Da aber liegt der Hund begraben: Die staatlichen Ausgaben steigen schneller als die Einnahmen. Das ging in den späten 60er-Jahren so richtig los. Damals ließ das Wachstum sporadisch nach, und die sozialliberale Regierung pumpte viel Geld in die Wirtschaft, um sie wieder anzukurbeln, zum Beispiel für den Ausbau der Universitäten. Und weil die Zahl der Rentner und Arbeitslosen stark zunimmt, wachsen vor allem die Ausgaben für das Sozialsystem.

Wie damit umzugehen ist, hängt nun vom politischen Standpunkt ab. Wer sich als marktliberal oder konservativ versteht, plädiert für die Kürzung der Ausgaben – vornehmlich im Sozialbereich. Die eher linksorientierten Verfechter des Sozialstaats dagegen definieren die Schere zwischen steigenden Einnahmen und stärker steigenden Ausgaben als Armut des Staates. Die öffentliche Hand müsse sich mehr Geld besorgen, vorzugsweise durch höhere Steuern auf Gewinne, große Gehälter und Vermögen.

Denn die Definition „arm“ funktioniert nicht ohne ihr Gegenteil. Besonders die volkswirtschaftliche Abteilung der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di arbeitet gern ein offensichtliches Missverhältnis heraus. Das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland ist von umgerechnet 260 Milliarden Euro im Jahr 1970 auf 3.700 Milliarden 2002 gestiegen: auf rund das Vierzehnfache.

Die Wirtschaftsleistung nahm im gleichen Zeitraum dagegen nur auf den sechsfachen Wert zu. Und interessanterweise haben die entsprechenden Einnahmen des Staates mit der Steigerung der privaten Kapitalvermögen nicht annähernd Schritt gehalten. Die Summe aus Vermögens-, Erbschafts- und nicht veranlagter Einkommensteuer stieg zwischen 1970 und 2002 auf rund den zweieinhalbfachen Wert. Da liegt die Schlussfolgerung nahe: Es gibt wohlhabende Bevölkerungsschichten, die in den vergangenen Jahrzehnten geschont wurden. HANNES KOCH