US-VERBALATTACKEN GEGEN PARIS RICHTEN SICH AUCH GEGEN BERLIN
: Zeit der Abrechnung

Die US-Schikanen gegen Frankreich finden nicht nur in den Medien statt. Sie laufen auf allen Ebenen. Das Arsenal reicht von Boykottaufrufen über Investitionsumleitungen, die Verzögerung diplomatischer Kontakte bis zu hartnäckigen Versuchen, Frankreich weltweit, in Europa und vor allem in seinen privilegierten Zweierbeziehungen zu isolieren. Letzteres betrifft vor allem Deutschland, Frankreichs Nachbarn und wichtigsten Partner.

Vor vier Monaten reiste die deutsche politische Elite nach Versailles, um bei einem Festakt einerseits Solidität der bilateralen Beziehung zu demonstrieren. Zugleich markierte der 22. Januar den Auftakt der bislang intensivsten diplomatischen deutsch-französischen Initiative: der Opposition gegen den US-Krieg im Irak. In den Wochen dannach konnten die Außenpolitiker in Berlin ihre Position gegen den Krieg zeigen, ohne ein großes eigenes Risiko einzugehen. Das Weltsicherheitsratsmitglied Frankreich, der erstaunlich konsequente Staatspräsident Jacques Chirac und die unerwartete Dynamik der deutsch-französischen Beziehung machten es möglich. Inzwischen ist der Krieg zu Ende. Für die USA ist die Zeit der Abrechnung gekommen. Nachdem Washington in der Vorkriegszeit erfolgreich versuchte, Europa in einen „alten“ und einen „neuen“ Teil zu spalten, macht es sich jetzt daran, die deutsch-französischen Beziehungen zu torpedieren. Während die US-Administration, begleitet von den US-Medien, eine Kampagne gegen Paris fährt, versucht sie gleichzeitig, den Bruch mit Berlin zu kitten. Powells Besuch und sein Angebot einer neuen UN-Resolution zum Irak sind nur ein Teil dieser Strategie.

Jetzt sollte sich Berlin an den 22. Januar erinnern – und an die Erkenntnis, dass Europa nur mit einer selbstbewussten, unabhängigen und im Zweifelsfall US-kritischen Außenpolitik das Stadium einer Freihandelszone überwinden kann. Die Angriffe auf Paris sind keine bilaterale Angelegenheit beider Länder, wie das Auswärtige Amt glauben will. Sie richten sich auch gegen Deutschland und auch gegen die EU. Die Bundesregierung täte gut daran, sie aufs Schärfste zurückzuweisen. DOROTHEA HAHN