In Haiti will plötzlich niemand die Macht

In der neuen Regierung des Karibikstaats sitzt kein Anhänger des ins Exil gedrängten Präsidenten – und überhaupt niemand aus den politischen Parteien. Die schweigen. Nur Venezuela und Jamaika kritisieren das Vorgehen des neuen Premiers Latortue

Haitis Politiker agieren fern der Realität, in der die Bevölkerung existieren muss

AUS SANTO DOMINGO HANS-ULRICH DILLMANN

Eine „nationale Versöhnung“ hatte Gérard Latortue, der neue haitianische Ministerpräsident, der Karibikrepublik versprochen. Sein Kabinett, das gestern in Port-au-Prince vereidigt werden sollte, straft diese Ankündigung Lügen, denn in der neuen Regierung ist die Lavalas-Partei von Expräsident Jean-Bertrand Aristide nicht vertreten. Latortues Vorgänger Yvon Neptune warnte deshalb vor einer weiteren Polarisierung in Haiti.

Venezuelas Präsident Hugo Chavez kündigte an, die neue Regierung Haitis nicht anzuerkennen, und bot Aristide Asyl an. Auch Jamaikas Premier P. J. Patterson betrachtet Aristide, der dort zu Gast ist, weiter als „legitimen Präsidenten“.

Niemand im neuen haitianischen Kabinett stammt aus den bestehenden politischen Parteien. Der frühere Armeegeneral Hérard Abraham soll als Innenminister für die innere Sicherheit zuständig sein. Er ist ebenso wie Außenminister Yvon Siméon ein enger Vertrauter Latortues.

Abraham steht dabei vor der Herausforderung, eine Rebellenarmee zu entwaffnen, die die nördlichen Regionen dominiert und in Port-au-Prince bewaffnet Präsenz zeigt. Dort tritt sie in Konkurrenz zu den knapp 2.700 Soldaten aus den USA, Frankreich, Kanada und Chile.

Kaum ist Latortue im Amt, wird immer deutlicher, dass er nichts anderes als eine Verlegenheitslösung von fremden Gnaden war. Die Opposition um die „Demokratische Plattform“ – dazu gehören die „Demokratische Konvergenz“ und die „Gruppe der 184“ – ist seltsam leise geworden. Wer wollte seinen Kopf schon für einen unmöglichen Auftrag hinhalten? André Apaid, Sprecher der „Gruppe der 184“, verneint vehement jegliche Ambition auf ein Staatsamt. Das geht jetzt schon seit zwei Jahren so, als der 52-jährige Unternehmer am haitianischen Oppositionshimmel auftauchte. Der in den USA geborene Apaid dürfte einer der reichsten Unternehmer des Landes sein und ist derzeit Präsident des Unternehmerverbands. Für seine Alpha-Industries arbeiten rund 4.000 Menschen. Sie nähen im Akkord in Freihandelszonen Textilen, die in die USA exportiert werden. Sie konfektionieren für Unisys, IBM, Remington und Honeywell Elektronikgeräte für den ausländischen Markt. US-amerikanische Arbeitsrechtler kritisieren, dass bei Alpha noch nicht einmal die Hälfte des Mindestlohns von umgerechnet 1,30 Euro pro Arbeitstag bezahlt wird.

Aber auch bei der eher links angesiedelten Demokratischen Konvergenz strebt angeblich niemand nach einem Staatsamt. Deren Leitfigur, der Soziologe Gérard Pierre-Charles, sagt, das Land brauche „demokratische Strukturen“ und nicht Führungspersönlichkeiten.

Das Klima für den Sturz von Aristide haben beide Organisationen geschaffen. Sie kritisierten seit Jahren – zu Recht – die autokratischen Verhältnisse im Lande, fanden aber daheim kaum Zuhörer. Ihre Kritik an dem ehemaligen Armenpriester ist erst gar nicht zu den Menschen auf dem Land und in den Armenvierteln durchgedrungen. Im Ausland und bei internationalen Organisationen wurden die gemäßigten Ex-Duvalieristen und Intellektuellen zwar hofiert; im Land selbst haben sie es nicht geschafft, Haitianer, die nicht wussten, wie sie am Mittag ihre karge Mahlzeit finanzieren sollten, davon zu überzeugen, dass Redefreiheit und demokratische Rechte in Gefahr sind.

Die Mehrheit der vornehmlich in der Demokratischen Konvergenz zusammengeschlossenen Intellektuellen, so lästert der dominikanische Intellektuelle José Israel Cuello, leide an der „Exilkrankheit“. Leute wie der einstige Aristide-Weggefährte Gérard Pierre-Charles hätten wie alle anderen Exilanten – wozu auch Latortue gehört – in den Jahrzehnten außerhalb des Landes den Zugang zur gesellschaftlichen Realität verloren. „Sie haben keinerlei Bezug mehr zur Bevölkerung. Sie leben in den guten Wohnvierteln und wissen nicht, was die Menschen bewegt“, findet der Verleger und Autor mehrerer Bücher über die haitianische Nachbarrepublik.