Zukunftsrat rügt NRW-Regierung

Das Kabinett bestellt einen Zukunftsrat – und erntet herbe Kritik: Der Haushalt sollte saniert, das Bevölkerungswachstum forciert und das Schulsystem revolutioniert werden, meinen die Experten

AUS DÜSSELDORF ANDREAS WYPUTTA

Nordrhein-Westfalen braucht massive Veränderungen, um an die Spitze der europäischen Regionen zurückzukehren. Das ist das Fazit des Berichts des Zukunftsrat NRW, den Ministerpräsident Peer Steinbrück gestern zusammen mit seiner grünen Umweltministerin Bärbel Höhn gestern in Düsseldorf präsentieren ließ. Die Schulden des größten Bundeslandes in Höhe von 98,8 Milliarden Euro wie das aktuelle Haushaltsdefizit von 5,2 Milliarden Euro machten massive Einsparungen nötig: Bis 2015 müsse die Landesregierung den Haushalt um mindestens 15 Prozent oder sieben Milliarden Euro kürzen, mahnen die vom Kabinett berufenen Experten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Medien und Sport an. Eine überaus positive Einschätzung: Der Zukunftsrat geht bei seinen Schätzungen von einem Wirtschaftswachstum von mindestens drei Prozent aus – derzeit gelten bereits zwei Prozent als optimistisch.

Zentraler Ansatz zur Lösung der finanziellen Probleme bleibt nach Ansicht von Zukunftsrats-Vize Jürgen Zech neben diesem Wirtschaftswachstum eine Umkehrung der demographischen Prozesse: Die Geburtenrate müsse von derzeit 1,4 auf mindestens 1,9 Kinder steigen – wie etwa in Frankreich. Dort habe die Regierung bereits Ende der fünfziger Jahre die Gefahren des Bevölkerungsrückgangs besonders für die Sozialsysteme erkannt und geeignete Gegenmaßnahmen getroffen, so der Versicherungsmanager: „Ab drei Kindern zahlen Sie in Frankreich praktisch keine Steuern mehr.“ Außerdem müssten die Ausbildungszeiten verkürzt und ehrenamtliches Engagement besonders gefördert werden: „Ein Studienabschluss mit 23 würde Frauen die Möglichkeit eröffnen, Karriere zu machen und dennoch Kinder zu bekommen“, meint Zech. Das in der vergangenen Woche beschlossene Abitur nach zwölf Schuljahren reiche dazu nicht aus – nötig sei auch eine Einschulung bereits mit fünf Jahren.

Revolutioniert werden sollte auch das Schulsystem: Statt der derzeit praktizierten Selektion nach der vierten Klasse fordert die Pädagogin Ursula Boos-Nünning, Professorin an der Universität Essen-Duisburg, eine integrative Schule für alle. Die bisherigen Schulformen sollen abgeschafft, alle Schüler sollen bis zur zehnten Klasse dieselbe Schulform besuchen und dabei individuell gefördert werden: „NRW braucht seine Kinder, seine Talente – und zwar alle! Auch weil hierzulande nicht genug Babys geboren werden“, schreibt der Zukunftsrat. Zu einem „lebenswerten NRW“ gehöre auch eine geringere Umweltbelastung. Nötig sei dazu ein reduzierten Flächenverbrauch und ein verminderter Schadstoffausstoß, schreiben die Fachleute Regierungschef Steinbrück gerade im aktuellen Streit um den Emissionshandel ins Stammbuch.

Der Ministerpräsident kündigte eine breite Debatte im Kabinett wie im Landtag an. Mittelfristig wolle seine Regierung auf ein „stärker integriertes“ Schulsystem setzen. Allerdings dürfe dies nicht zu einem „Kulturkampf“ wie um die Gesamtschule führen. Viele Vorschläge seien aber unrealistisch: Haushaltskürzungen um 15 Prozent seien seinem Kabinett wie der Bevölkerung „kaum vermittelbar“.