Gottes Hand am Tivoli

Ein singender Präsident, zwei gescheiterte Hochzeiten, jede Menge Fohlen-Frust samt Abstiegsangst, und ein George Mbwando als Maradona: Alemannia Aachens folgenschweres 1:0 im DFB-Pokalhalbfinale gegen Borussia Mönchengladbach

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Der unscheinbare Mann im fahl-grauen Anzug saß weit nach Mitternacht in einer Ecke des VIP-Zeltes und trank sein Pils. Plötzlich erhebt er sich und beginnt sich selbst zu dirigieren: „Fi-naaa-le ohooo …“ Inbrünstig besingen die Umstehenden die ferne Hauptstadt: „Berlin, Berlin …“ Dann setzt sich der graue Mann wieder, schüttelt ruckartig den Kopf, während seine Arme unrhythmisch in verschiedene Richtungen zucken, als wäre er ein schwarz-gelber Gollum.

Das seltsame Geschöpf heißt Horst Heinrichs, ist 57 Jahre alt und Hochschullehrer für Maschinenbau an der FH Aachen. Nebenbei ist er Präsident von Alemannia und hat zu einer Uhrzeit, zu der sein Kollege Franz Beckenbauer nach Bayern-Spielen immer eine wichtige Bankettrede hält, ersatzweise einen etwas wirren Gesichtsausdruck angenommen. „Heute bin ich ein ganz, ganz unordentlicher Professor. Das muss alles raus.“

1:0 hatte Zweitligist Aachen den klassenhöheren Nachbarn aus Mönchengladbach besiegt. Mit viel Leidenschaft, defensiver Inbrunst, einem erneut formidablen Torwart Stephan Straub und viel Glück. Jetzt steht Schlagzeilenclub Alemannia, eben noch Inbegriff für Skandal, Mauschelei und Sünde, im Pokalfinale in Berlin. „Es ist so unglaublich“, sagt Heinrichs noch, „vor zwei Jahren waren wir der Insolvenz näher als dem Überleben.“ Jetzt hat der DFB-Pokal den einst kriminellen Kungelklub saniert. Zwei Heimspiele live im Fernsehen plus Pfingstfinale bringen ziemlich genau jene 4,5 Millionen Euro, die an Altlasten aus Chaoszeiten aufgelaufen waren. Und der Uefa-Cup kommt nächstes Jahr noch dazu (kurioserweise am liebsten, wenn das erlaubt wird, im holländischen Kerkrade nebenan in deren schmuckem Sitzplatzstadion), weil der Berliner Endspielgegner Werder Bremen wohl Champions League spielen wird.

Die Borussia aus Gladbach war das überlegene Team mit einer Mehrzahl an Torchancen gewesen, aber ohne das letzte Stück Willen und spielentscheidender Schmutzigkeit. Keeper Claus Reitmaier, der am Spieltag 40 wurde und bei Ivica Grlics Freistoßtor nach 42 Minuten nicht eben glücklich aussah, hatte „einen absoluten Scheißgeburtstag“ erlebt und glaubt sein Team „an der Grenze zur 2. Liga“. Keine Frage: Bei Borussia ist große Unruhe ausgebrochen. Trainer Holger Fach attestierte „fehlendes fußballerisches Vermögen“, die Elf sei schlimmerweise nicht in der Lage gewesen, „gegen einen Zweitligisten das Spiel noch umzubiegen“. Man merkte die Nervosität auch daran, wie seltsam distanziert Manager Christian Hochstätter und Fach („Wir haben nicht genügend Kerle im Team“) meist von „der Mannschaft“ sprachen und das Wir vermieden, als ginge es um Fremde. Untereinander sah man die beiden Fohlen-Führer im internen Wortgefecht und hörte sie später in sehr konträrer Analyse der seltsamen 89. Minute.

Da hatte Aachens Simbabwer George Mbwando den Ball deutlich sichtbar im Torraum mit weit ausgestreckter Hand weggeschlagen, als wäre er Heiner Brand zu seinen besten Zeiten. Fach wollte sich darüber „nicht weiter beklagen“, man habe zuvor selbst genügend Chancen gehabt. Hochstätter hingegen kochte: „Da geht es um Arbeitsplätze und Millionen. Da sehen 21.000 Menschen das Handspiel, nur einer nicht, der Schiedsrichter. Das ist eine Farce. Das ist ein Unding. Das war Volleyball, kein Fußball.“ Referee Edgar Steinborn hatte eine krude Logik: „Ich habe das Handspiel gesehen, es aber als nicht absichtlich bewertet.“

Der Pokal, oft unterschätzt, ist ein wahrer Alleskönner. Die einen saniert er (Aachen-Trainer Jörg Berger: „Hier ist ein Wunder passiert“), die anderen ruiniert er womöglich psychisch. Er macht Hände zu Füßen, egalisiert Hand- und Volleyball. Und er verhindert selbst bei Siegern großes Glück. Aachens Kalla Pflipsen hatte vor Monaten schon für Pfingsten seine Hochzeit terminiert, ganau wie Kollege Dennis Brinkmann. „Wer denkt schon an so was?“, sagt der Kapitän – und bekennt sich zum Versäumnis „vor der Saison eine Uefa-Cup-Prämie auszuhandeln“.

Und George Mbwando, der Volleyhandballer? „Irgendein Reflex“, sagt er, habe ihn zum Ball tatschen lassen. Kurz bevor ihn ein Spontaninfarkt vor Schreck über das Deppentum des Jahres hätte ereilen können, sagt er, „hab ich schnell geguckt und gesehen: Das Spiel geht ja weiter“. Und Mbwando wurde albern: „So macht Fußball doch Spaß. Darum kommen die Leute. Und müssen nicht immer nur von Maradona reden.“ Eine Hand Gottes hat auch der Diego vom Tivoli.

Arme Borussia. Und ein kleines bisschen arme bereicherte Alemannia. Denn der Triumph, ohnehin nicht ganz so rauschhaft wie das überirdische 2:1 gegen den FC Bayern im Viertelfinale, wird immer einen kleinen Beigeschmack behalten. Horst Heinrichs war das pilsegal: „Gut“, sagte der Printenstadtpräsident noch, „dass vorlesungsfreie Zeit ist.“ Am Donnerstagmorgen nämlich hätte er seinen Studenten sonst was über „Industriebetriebslehre und Fertigungstechnik erzählen müssen“. Lieber singt er weiter. „Oleeee Alemannia …“