Wo bleibt der Münte-Effekt?

Die Philosophie vom Münte-Effekt: nichts anders machen – das aber richtigDer Münte-Effekt ist ein großes Fake. Es gibt ihn gar nicht. Müntefering macht Schröders Politik

VON JENS KÖNIG

1. Das Schönste am Münte-Effekt: Er ist nicht messbar. Er ist ein Element der Stimmungsdemokratie. Da macht er sich bislang ganz gut. Müntefering hebt die Stimmung, jedenfalls die in der SPD. Mehr aber auch nicht.

2. Das Beste am Münte-Effekt: Er ist messbar. Erste SPD-Landesverbände vermelden, dass die Austrittswelle vorerst gestoppt sei.

3. Das Irritierende am Münte-Effekt: Er ist unschuldig. Nach der verlorenen Hamburg-Wahl am 29. Februar haben die Genossen gesagt, da konnte Müntefering noch nichts machen. Schließlich sei erst am 6. Februar der geplante Wechsel an der SPD-Spitze verkündet worden. Sollte die SPD am 13. Juni die Europawahlen und die Landtagswahlen in Thüringen verlieren, werden die Genossen sagen, das lag nicht an Müntefering, die Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen am 26. September – die sind die Nagelprobe. Sollte die SPD dann auch dort untergehen, werden die Genossen behaupten, das lag an Steinbrück, dem Ministerpräsidenten. Und an Clement. Und an Schröder. Aber nicht an unserem Franz.

4. Der Münte-Effekt hat Substanz. Sie besteht aus Zeit, Vertrauen und Zuwendung. Müntefering hat mehr Zeit als Schröder, sich um die SPD zu kümmern. Müntefering genießt in der Partei mehr Vertrauen als Schröder, weil er für die alte und die neue SPD steht, für Tradition und Moderne, für Freiheit und Gerechtigkeit, für Ausbildungsplatzabgabe und Praxisgebühr. Und Müntefering wendet sich der Partei tatsächlich zu, tourt durch die Kreisverbände, spricht mit den Landesverbänden, hört den Genossen zu. Heiko Maas, der SPD-Landesvorsitzende aus dem Saarland, erzählt, dass er mit Müntefering in den ersten zehn Tagen nach dem angekündigten Wechsel an der Parteispitze schon öfter gesprochen hatte als mit dem alten SPD-Chef in drei Jahren. Schröder hätte ihn nur ein einziges Mal angerufen – wegen einer kritischen Pressemitteilung zum Atomausstieg.

5. Der Münte-Effekt vertritt eine einfache Philosophie: nichts anders machen – das aber richtig. „Ich erkläre das halb leere Glas jetzt einfach für halb voll“, sagt Müntefering.

6. Der Münte-Effekt ist ein großes Fake. Es gibt ihn gar nicht. Ein halb leeres Glas ist natürlich immer halb leer. Schröders Agenda 2010 wird umgesetzt. Das Reformtempo wird nicht gedrosselt. Soziale Einschnitte bleiben soziale Einschnitte. „Ich verstehe manche Interventionen“, sagt Müntefering, „aber ich versichere Ihnen: Es gibt kein Zurück.“ Der neue Parteivorsitzende wird an dem Grundproblem der SPD genauso wenig ändern können wie der alte Parteivorsitzende: Die Mitglieder, Anhänger und Wähler laufen der SPD nicht weg, weil sie ihre Politik falsch erklärt bekommen, sondern weil sie diese Politik falsch finden.

7. Der Münte-Effekt nutzt sich schon ab. Am zurückliegenden Wochenende in Erfurt, auf dem Kongress der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, haben sie ihren letzten Hoffnungsträger sogar ausgepfiffen. Bei dem renitenten Ottmar-Schreiner-Flügel der SPD kam die bedingungslose Verteidigung von Schröders Regierungspolitik gar nicht gut an. „Das ist Schröder für Arme“, haben sie Müntefering zugerufen.

8. Der Münte-Effekt tut so, als ob. Als ob der neue Parteivorsitzende doch anders könnte. Als ob Müntefering Bonbons an die Genossen verteilen könnte. Als ob er Korrekturen an der Schröder-Politik vornehmen könnte. Das ist eine Gratwanderung. Müntefering will als ein erstes Zeichen seiner eigenen Handschrift die Ausbildungsplatzabgabe durchsetzen. Bis zum Parteitag am Sonntag sollte ursprünglich der fertige Gesetzesentwurf vorliegen. Aber es gibt heftigen Widerstand in der Partei – von Ministern (Clement, Schily, Struck), Ministerpräsidenten (Steinbrück, Beck, Simonis) und einflussreichen Landesvorsitzenden (Schartau). Müntefering wird sich durchsetzen – aber um welchen Preis? Das gleiche Dilemma bei der Mindestrente. Müntefering gab den Kritikern in der Fraktion den kleinen Finger und ließ eine Diskussion über eine konkrete Prozentzahl für die langfristige Mindestrente im Gesetz zu – prompt nahmen die Linken die ganze Hand und zettelten eine Grundsatzdebatte über den Rentenkurs an. Müntefering musste ein Machtwort sprechen. Wie oft geht das gut?

9. Der Münte-Effekt basiert auf einem Experiment, dessen Ausgang niemand kennt. Welchen Spielraum hat ein SPD-Vorsitzender neben einem sozialdemokratischen Kanzler? Und wie weit reicht seine Loyalität? Bis zum Untergang der Partei?

10. Den Münte-Effekt gibt es nur in Müntes Welt – aber nicht außerhalb der SPD. Allensbach-Umfrage von dieser Woche: SPD 23,8 Prozent. Das ist der tiefste Wert, der in Allensbach jemals für die Sozialdemokraten gemessen wurde.