Die Kunst ist lang, und das Wort ist kurz

Am stärksten ist das Festival dann, wenn es seinen Titel wörtlich nimmt: In der Straßenbahn kann sogar Sendeloch-Paranoia Poesie gebären. Im distanzierten Vortrag vor vollen Sälen hingegen schwindet der Unterschied zur Prosa und die Sprachkunst zieht vorüber wie ein klingender Schatten

Hegel liegt noch immer im Karton und die Bibliothek hat zu

Die Säle sind allenthalben voll besetzt, was Festivalmutter Silke Behl freut, vor allem, so sagt sie, vor allem für ihre Dichter, „dass die so etwas erleben dürfen.“ Man könne sich ja kaum vorstellen, „wie schön das ist, so ein voller Saal“, und das macht die Frage, ob nicht am besten das ganze Festival in der Tram stattgefunden hätte, weiß Gott müßig: Dann nämlich wäre die Zuschauerbilanz von „potery on the road“ notgedrungen ganz anders ausgefallen.

Trotzdem ist das jedenfalls echte Poesie, ganz unabhängig davon, ob sie nun aus professioneller Sendeloch-Paranoia geboren ist, oder nicht: „Die Straßenbahn rattert. Der Dichter schweigt. Der Moderator sucht nach einer klugen Frage“, säuselt Otmar Willi Weber ein Beinahe-Haiku ins Mikrofon, während das Gefährt die Kurve von der Bürgermeister-Smidt-Brücke in die Westerstraße geradezu lyrisch langsam ausfährt.

„Wie jetzt geschieht“, hatte Hagar Peters kurz zuvor flugs einen Vers erfunden, als ihr „Körper im Stillstand“, wie im Gedicht beschrieben, nach vorne zu kippen und hinzufallen drohte. Auf den bekennenden Onomatopoeten Peter Waterhouse stürmen hingegen die akustischen Wahrnehmungen derart ein, dass er sich überhaupt nicht mehr konzentrieren kann, wie er sagt. „und es ist mir nicht möglich, unkonzentriert zu lesen“.

Nicht auswendig? Ach, das ist ein altes, fast vergessenes Vorurteil, dass Gedichte, Poesie oder Poeterey oder meinetwegen halt auch poetry auswendig gewusst werden müssten. Zwar wäre es gerade in der Straßenbahn ratsam, wegen der Standsicherung in den Kurven, aber, mit der Frage nach Sein oder Nichtsein von Dichtung hat das offenbar nichts zu tun, es sei denn, man griffe auf Hegel zurück. Aber Hegel liegt noch immer irgendwo im Karton, und die Bibliotheken sind geschlossen, was bildungsbürgerliches Sinnieren über die vierte Auflage des Bremer Literaturfestivals erschwert. Das ist bedauerlich, denn auch ein intelligenter Satz hat mitunter seine Reize, vor allem wenn es darum geht, ein letztlich amorphes Konvolut irgendwie präsentabel zu machen.

Die Straßenbahn quietscht, während Tram-Pianist Marc Lüdicke auf Geheiß Webers versucht, das grummelnde Fahrgeräusch – „genau genommen ist das ein Rhythmus“, merkt Waterhouse an – zu imitieren.

Die Staatsrätin spricht zur Eröffnung am Abend zuvor. Ohne Klavierbegleitung. Bremen habe es geschafft, sagt sie in der Großsauna des Schauspielhauses (und, das grenzt schon an Blasphemie, am selben Pult an dem wenig später Frieda Hughes oder der furiose Holländer Ramsey Nasr rezitieren werden) etwas „in die Kulturlandschaft hineinzusetzen“. Die Frau Motschmann jedenfalls ist, um doch noch einmal auf Hegel zurück zu kommen, die einzige, die bei der Eröffnung von „poetry on the road“ etwas auswendig dahersagt. Und ihre Ansprache sollte man keinesfalls als Poesie verbuchen.

Am Ende regen sich jedenfalls alle Hände zum Applaus, schwitzend oder nicht, und für die Staatssekretärinnenprosa kaum anders als, beispielsweise, für Christoph Lehnerts schwärmerisch-schwiemelnde Naturpoesie, oder am nächsten Abend, dem Samstag, im Theater am Leibnizplatz für Elisabeth Borchers, deren lakonische Miniaturen schneller verklingen, als sie zu den Ohren finden: Die Kunst ist lang und das Wort ist kurz. Immerhin gibt’s am zweiten Abend keine zweite Eröffnungsansprache. In der Straßenbahn fährt die Frau Motschmann dann aber doch mit, freilich ohne es zu wissen. Hier, wo der Text das Risiko und die Chance des Zufalls eingehen muss, der unerwarteten Konjektur, und gerade während Hagar Peters ins Mikrofon sagt, „der Idee Frau zu entsprechen“ sei ganz einfach, liegt sie einfach da, die Frau Staatsrätin, im Badeanzug auf der dritten Seite eines absichtlich vergessenen Anzeigenblättchens aus Bremen West. Und die Stadt zieht vorbei und Hagar Peters rezitiert fröhlich mit kehliger, dunkler Alt-Stimme, „Schau dir nur die Transvestiten an und imitiere sie.“

Benno Schirrmeister