Der Supersekundenwegsauger

Schurken, die die Welt beherrschen wollen. Heute: Wolfgang „Zäpfchen“ Clement

Für einen Euro Trinkgeld führte er Thekengästen vor, wie man ein Zäpfchen hochklappt

Zugegeben: Der gebeugte, tatterige, abgemagerte Mann, der aus dem ganzen Körper riecht, wirkt ein wenig verwahrlost. Dass der unrasierte, zahnlose Alte, der in einem Straßengraben an der B 99 zwischen Zittau und Ostritz lebt, einst an den Schalthebeln der Macht hantierte, sieht ihm kaum einer an. Und doch: Dieser Greis mit den geldstückgroßen Karbunkeln im Gesicht, der sich von Schlamm und Regenwasser ernährt und sich mit zusammengebundenen Plastikbeuteln kleidet, war einmal der Superminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement.

Dass ausgerechnet der Mensch, der einst den Notleidenden die soziale Hängematte unterm Hintern wegzog, nur weich liegt, wenn er in einen Kuhfladen stolpert – darin liegt gewiss ein Hauch Tragikomik, den man zehn Meilen gegen den Wind bemerkt. Höchstpersönlich hatte Clement damals, im „Agenda 2010“-Jahr 2003, verfügt, dass Erwerbslose jeden Job annehmen müssen. Kaum war er selbst aus dem Bundeskabinett geflogen, da vermittelte das Arbeitsamt den gelernten Superjournalisten, der sein Handwerk früher bei der Hamburger Morgenpost verübt hatte, als Hilfsredakteur an eine Zeitschrift für Abfallverwertung in der Hinterlausitz. Nachdem die Zeitung daraufhin Pleite machte, verdiente Clement noch eine Weile sein Geld am Tresen: Für einen Euro Trinkgeld führte er den Thekengästen vor, wie man ein Gaumenzäpfchen hochklappte, um ein Bier in anderthalb Sekunden wegzusaugen. Als das nicht mehr zog, landete Clement schließlich auf der Straße.

Das war die konsequente Endstation eines gescheiterten Illusionisten, der den starken Mann und Macher markierte, aber in Wahrheit unfähig war, einen Eimer Wasser anzuzünden. Seine Laufbahn begann er, der 1940 in Bochum als Arbeitersohn zutage gefördert worden war, aber stets was Besseres zu sein vorgab, in den Sechzigerjahren an wechselnden Universitäten, wo er einen wissenschaftlichen Assistenten mimte und einen Doktoranden simulierte; doch blieb seine Dissertation über die „Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen im Bundesrat“ wegen der Zustimmungsbedürftigkeit des Doktorvaters tot auf der Strecke. Daraufhin verlegte Clement sich auf ein Feld, wo man auch mit kleinem Kopf Erfolg haben kann, die Politik. 1970 machte er Willy Brandts Partei weis, ein Sozialdemokrat zu sein, und begab sich auf den langen Marsch, um die SPD in eine zweite CDU zu verwandeln. Als Clement nach zehnjähriger Inkubationszeit 1981 zum Ausbruch kam, halfen keine Pillen mehr.

Kaum war er 1981 Sprecher des SPD-Vorstands, da drehte Helmut Schmidt in Bonn die Hufe hoch. Kaum war Clement 1985 zum stellvertretenden Bundesgeschäftsführer befördert, da kackte die SPD bei Wahlen in Bayern und Hamburg ab. Kaum war er Berater des Kanzlerkandidaten Johannes Rau geworden, da bekam der bei der Bundestagswahl 1987 einen auf die Zwölf. Dennoch legte sich Rau dieses trojanische Ei in seine Düsseldorfer Staatskanzlei und schusterte ihm obendrein für die NRW-Landtagswahl 1990 einen vorderen Listenplatz zu, aber diesmal parkte Clement selber neben der Schüssel und mogelte sich erst 1993 als Nachrücker ins Parlament. 1998 der Coup: Clement verfrachtete seinen Mentor Rau ins Berliner Altenheim „Schloss Bellevue“ und übernahm die Kontrolle über Nordrhein-Westfalen – prompt erzielte die SPD bei der nächsten Landtagswahl das schlechteste Ergebnis seit über 40 Jahren.

Dem Land selbst erging es ähnlich. Entschlossen betrieb Super-Clement eine Kabinettsreform – die Zusammenlegung aller Ressorts mit der Industrie –, förderte moderne Potemkin-Technologien, Mega-Mumpitz-Medienprojekte und Gaga-Großkonzepte und baute NRW zum Hightech-Luftschloss um. 2002, rechtzeitig bevor alles aufflog, verdünnisierte sich Clement, der sich von Gerichtsbeschlüssen und Untersuchungsausschüssen nicht länger Ketten anlegen lassen wollte, nach Berlin, wo Gerhard Schröder einen Narren an ihm gefressen hatte.

Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht und die zweitgrößte Exportnation der Welt, also international nicht konkurrenzfähig, erkannte der neue Superminister und beschloss, dass die einzige Alternative zum Neoliberalismus darin besteht, ihn selbst zu praktizieren. So beseitigte er, um die Unternehmen vom teuren Faktor Arbeit zu entlasten, den Kündigungsschutz, sorgte dafür, dass die Löhne von den Lohnempfängern bezahlt wurden, und schaffte, um die Konjunktur zusätzlich anzukurbeln, den Ladenschluss ab, da ein Geschäft, das 24 Stunden am Tag aufhat, doppelt so viel einnimmt wie eines, das nur zwölf Stunden öffnet, wie jedes Milchmädchen an seinen 24 Fingern abzählen kann.

Hätte es die Realität nicht gegeben, wäre alles gut gegangen, ist der gläubige Katholik Clement überzeugt. Selbst heute noch, als Superpenner an der B 99, hustet er den linken Kritikern etwas – und weist stolz darauf hin: Sein Auswurf ist nicht etwa rot, sondern natürlich schwarz. Genauso wie die SPD.

PETER KÖHLER