Wesemann radelt ins Geschichtsbuch

Der Telekom-Profi gewinnt unter Schmerzen zum fünften Mal die traditionsreiche Friedensfahrt – und damit so oftwie kein anderer Radler vor ihm. Für diese historische Tat war freilich ein veränderter Lebenswandel vonnöten

BERLIN taz ■ Als er es endlich vollbracht hatte und mitten hineingefahren war in die Geschichtsbücher des Radsports, sprudelte der Sekt vom Sponsor. Zuerst nahm Steffen Wesemann, gerade zum fünften Mal und damit so oft wie keiner vor ihm Sieger der Friedensfahrt geworden, selbst einen tiefen Schluck aus der großen Pulle, dann, noch auf dem Podium der Besten, beträufelte er seine Nebenmänner, den Zweitplatzierten Tschechen Ondrej Sosenka sowie dessen Landsmann Tomas Konecny (3.) flächendeckend mit Schaumwein aus dem Hause Rotkäppchen. So, wie man das eben tut, wenn man Einmaliges vollbracht hat. Und dazu sagte Steffen Wesemann, 32, einen so schlichten wie passenden Satz: „Ich bin überglücklich.“

Nun ist solcherlei Szenario in der Welt des Sports keineswegs ganz einmalig – und 49 Sekunden Vorsprung sind auch nicht der ganz große Hammer für neun Etappen oder 1.563 Kilometer, zumal das Feld der Konkurrenz kaum erstklassig besetzt war. Aber das spielte am Ende keine Rolle mehr, weder für Rekordmann Wesemann noch für sein Team von der Telekom. Zumal der historische Triumph weitaus deutlicher herausgefahren war, als es der Sekundenzeiger glauben machte. Von Anfang an hatten die radelnden Fernmelder Feld wie Rennen nämlich dominiert: Die ersten beiden Etappen gewann Telekom-Sprinter Danilo Hondo, die dritte Wesemann, ab der vierten fuhr er im gelben Trikot des Besten, das er bis zum letzten Zielstrich in Erfurt nicht mehr auszog.

Wesemanns Triumph war aber durchaus auch ein Sieg der Mannschaft. „Jeder hat seine Vorgaben exakt erfüllt, unabhängig davon, ob er dann persönlich nicht so gut platziert war“, lobte der 32-Jährige seine emsigen Helfer in Magenta; selbst ein Sturz auf der sechsten Etappe nach Frankfurt (Oder) blieb für Wesemann ohne Folgen, vom dicken Verband am rechten Bein und ein paar Schmerzen einmal abgesehen.

Vielleicht hätte sich der Wahl-Schweizer von solcherlei Unbill vor ein paar Jahren noch vom Gewinnen abhalten lassen. Wesemann galt bei Telekom kaum als einer, der den Sieg um jeden Preis suchte, eher erfüllte er das Bild des radelnden Lebemanns – ausgestattet mit großem Talent zwar, aber ohne den Trieb, es ausgiebig zu nutzen. Bis an den Rand des Rauswurfs hatte ihn das bei den Telekoms gebracht, bevor „Wese“ vor vier Jahren doch noch die Kurve bekam. „Das Erste, was er damals gemacht hat, war seine Einstellung zu ändern“, sagt Olaf Ludwig. Seine Einstellung zum Leben und zum Sport meint der Telekom-Sprecher damit. Man könnte auch sagen: Er wurde endlich ein richtiger Profi. Wesemann hat die Kursänderung ziemlich radikal durchgezogen, bei Telekom gilt er längst als Klassikjäger – und somit als Mann für die besonders harten Fälle, beispielsweise für das mörderische Kopfsteinpflaster zwischen Paris und Roubaix, genannt: die Hölle des Nordens. Siebter wurde er bei diesem härtesten Eintagesrennen der Welt vor zwei Jahren, beeindruckender Zweiter trotz mehrerer Stürze und technischer Defekte im Vorjahr; in diesem Jahr hinderten ihn eine schmerzhafte Rippenprellung, erlitten bei der Flandern-Rundfahrt, daran, es noch besser zu machen.

Auch bei der Friedensfahrt hatte Wesemann weiter mit den Folgen des bösen Sturzes zu tun. „Richtig schmerzfrei fahre ich immer noch nicht“, verriet er, entsprechend stand auch sein Start bei der traditionsreichen Tour durch Tschechien, Polen und Deutschland lange Zeit auf der Kippe. „Ich hatte die Friedensfahrt schon abgesagt, jetzt habe ich sie gewonnen“, jubelte Wesemann in Erfurt im Ziel. Dann spritzte er weiter mit Rotkäppchen um sich.

FRANK KETTERER