Mühsal einer Sozialdemokratin

von BETTINA GAUS

Keine Fete. Heute hat Heide Simonis sowieso keine Zeit – auswärtige Termine. Niemand will Gewese um das zehnjährige Dienstjubiläum der Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein machen. Zum Jubel haben sozialdemokratische Politikerinnen und Politiker derzeit wenig Anlass, und der käme in der Öffentlichkeit wohl auch nicht besonders gut an. Also wird den Mitarbeitern der Staatskanzlei morgen ein schnelles Glas Sekt gereicht. Dabei bleibt’s. Bloß kein Aufhebens.

Zum öffentlichen Bild der einzigen Frau in der Riege der deutschen Landeschefs passt diese Zurückhaltung schlecht. Es schillert ein wenig. Über ihre Liebe zu Flohmärkten ist oft geschrieben worden, auch über ihre Leidenschaft für schrillen Schmuck. Ein flottes Mundwerk wird ihr nachgesagt und große Offenherzigkeit. Insgesamt und irgendwie: halt unangepasst. Ist es ein Zufall, wenn gerade im Zusammenhang mit einer Frau derartige Details für wichtig gehalten werden? Und wie realistisch kann dieses Bild von jemandem sein, deren Job so gar nicht schillernd ist – sondern ein beständiger Kampf um winzige Erfolge und gegen große Niederlagen?

Der schützende Paravent

Jedes Image wird im Laufe der Jahre auch zum schützenden Paravent. Routine beruhigt. Gewohnt locker und gewandt präsentiert Heide Simonis in der Berliner Landesvertretung die bevorstehende Kieler Woche: „Die Menschen in Kiel haben nur einen einzigen Fehler: Sie können nicht für sich Werbung machen.“ Dafür kann es immerhin die Ministerpräsidentin. Eintrag ins Goldene Buch von Berlin-Reinickendorf, Erinnerungsfoto mit der CDU-Bürgermeisterin. Die strahlt, Heide Simonis lächelt. Den ganzen Abend und auch noch beim zehnten Posieren mit einer lokalen Größe. Alles im Lot.

Dabei entspricht die Bescheidenheit beim Dienstjubiläum der Realität. Das Land ist pleite. Im März hat die SPD bei den Kommunalwahlen ein abscheuliches Ergebnis erzielt. Eine Filz-Affäre im Zusammenhang mit dem Verkauf des Kieler Schlosses verschwindet einfach nicht aus den Regionalnachrichten. Außerdem haben sich kürzlich die Landtagsabgeordneten von SPD und CDU einträchtig eine so üppige Diätenerhöhung genehmigt, dass der öffentliche Protest laut genug wurde, um eine Rücknahme des Beschlusses zu erzwingen. In solchen Fällen bleibt stets auch an der Ministerpräsidentin etwas hängen, mag das nun gerecht sein oder nicht. Für eine Ballnacht wären das keine gute Voraussetzungen. Für schlechte Laune schon.

Aber die Jubilarin wirkt eben nicht schlecht gelaunt. Zur nächsten Landtagswahl will Heide Simonis noch einmal antreten, und sie versichert im Gespräch tatsächlich auch bis 2010 im Amt bleiben zu wollen. Sie sei lieber ein großer Fisch in einem kleinen Teich als umgekehrt, deshalb ziehe es sie nicht nach Berlin. Eigentlich finde sie es auch eine besonders reizvolle Herausforderung, „aus wenig etwas zu machen“. Die leicht forcierte Begeisterung klingt vertraut. Wenn Politikerinnen und Politiker erst einmal von den Reizen ihres Amtes sprechen, dann geht es ihnen meist nicht so gut. Sozialdemokratische Landespolitik gehört gegenwärtig wohl zu den undankbarsten Aufgaben überhaupt: Man wird gemeinsam mit den Kollegen der Bundesebene verprügelt, obwohl man doch viel lieber mit hauen möchte.

Das sagt Heide Simonis natürlich nicht. Stattdessen balanciert sie auf dem schmalen Grat zwischen Parteiloyalität und Aufrichtigkeit. Doch, meint sie zögernd, sie habe Verständnis für Hans Eichel. Schließlich hätten die Wirtschaftsweisen drei Jahre hintereinander zu optimistische Prognosen geliefert. Sie versuche durchaus auch, den Absturz der SPD in der Wählergunst zu verstehen: „Aber das, worüber die Leute sauer sind, ist doch bei der CDU noch schlimmer.“ Hält sie Gerhard Schröder für einen guten Bundeskanzler? „Er hat ein unglaubliches Gespür für Situationen.“ Gewiss. Aber ist er ein guter Kanzler? Alle Leute haben eine Schmerzgrenze. Die der Ministerpräsidentin scheint bei der Nachfrage erreicht zu sein: „Wir wissen, dass wir alle Wasserträger sind. Deshalb könnte er uns ruhig mehr einsetzen.“ Er neige dazu, manches von oben zu dekretieren. Widerspruch führe dann häufig zu „kleinen Dramen“.

Das kann gerade eine Frau wie Heide Simonis nur schwer ertragen. Es widerspricht ihrer Persönlichkeit – und es widerspricht dem Geist der Zeit, in der die 59-Jährige politisch geprägt worden ist. 1969 trat sie in die SPD ein. Vorher hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann ein Jahr in Sambia verbracht. Eine Lehrzeit. „Es war klar, dass die Aussagen von himmelschreiender ungerechter Verteilung in der Welt schon stimmten.“ Der Wunsch nach Gerechtigkeit sei die Triebfeder ihrer politischen Betätigung gewesen, nicht der Kampf gegen Diskriminierung von Minderheiten oder für die Emanzipation der Frau: „Ich fand damals, das hatten wir im Griff“, sagt sie. Ein „Kinderglaube“ sei das gewesen.

Mit dem Godesberger Programm von 1959 wollte die SPD um bürgerliche Schichten werben. Der Eintritt einer jungen Frau wie Heide Simonis, als Tochter eines Verwaltungsdirektors in Bonn geboren, mag Parteistrategen damals als Beweis dafür gegolten haben, dass die Rechnung aufging. Ihr Vater war ein Konservativer mit Sympathien für die Deutschnationalen, die Mutter konnte bis zum Ende ihres Lebens 1995 dem Nationalsozialismus einige positive Seiten abgewinnen. Heide Simonis räumt ein, dass sie in sozialer Hinsicht privilegiert gewesen sei: „Wir waren nicht reich, aber es war immer auskömmlich.“

Die Preußentochter

Es ist eine offene Frage, ob jemand mit diesem Hintergrund tatsächlich imstande ist, Existenzängste und das Gefühl der Benachteiligung zu verstehen. Soziale Gerechtigkeit bezeichnet Heide Simonis noch immer als ihr größtes Anliegen. Aber was versteht sie darunter – heute? Spontan: „Das Mindestmaß an Gerechtigkeit ist, dass man Menschen eine Chance gibt.“ Und dann, schnell und engagiert: „Mich macht das krank, wenn jemand, der morgens um fünf zur Arbeit im Hafen geht, für jemanden mitarbeitet, der mit Sozialhilfe zufrieden ist oder sogar schwarzarbeitet. Das regt mich richtig auf.“

Was bedeutet es, wenn einer Sozialdemokratin in Zeiten verschärfter Verteilungskämpfe als Erstes der Missbrauch einfällt, sobald sie über die Probleme der sozialen Sicherungssysteme nachdenkt? Sie nimmt die Frage ernst. Denkt nach. Und sagt dann, etwas müde lachend: „Da ist wieder die Preußentochter.“ Ein Prinzip ihres Vaters hat sie verinnerlicht: „Ihr habt ein Anrecht auf bestimmte Leistungen von der Gesellschaft, aber ihr müsst auch zurückzahlen.“

Das ist ein redliches Prinzip, dem allerdings wohl auch viele Anhänger der Union zustimmen könnten. Heide Simonis sagt von sich, dass sie jederzeit wieder in die SPD eintreten würde: „Weil es die Partei ist, die sich immer noch Mühe gibt, alles, was getan werden muss, unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu diskutieren.“ Nach wie vor sei die SPD offener als andere Parteien für neue Ideen: „Es werden Überlegungen angestellt, die nicht ausschließlich im Interesse der eigenen Klientel liegen.“ Das hört sich mehr nach den Mühen der Ebene an als nach Aufbruch. Ein bisschen langweilig.

Es ist nicht die Zeit der großen Gesellschaftsentwürfe. Die Sozialdemokraten und ihre Anhänger sind bescheiden geworden. „Sie macht einen ordentlichen Job“, sagt die Künstlerin Katja Ebstein über Heide Simonis, für die sie sich im letzten Wahlkampf eingesetzt hat: „Ich glaube, es ist ihr nicht wurscht, wie es den Leuten geht.“ Der Politologe Claus Leggewie schätzt an der Ministerpräsidentin, „dass sie sich immer bemüht, den sozialen Kern im Auge zu behalten.“ Sie habe „ein spontanes Gerechtigkeitsgefühl im Blick auf die heutige Gesellschaft.“ Ihr Parteifreund und ehemaliger Amtskollege Sigmar Gabriel, heute Oppositionsführer in Niedersachsen, erzählt, sie habe sich „sofort“ nach seiner Niederlage „mit einem handschriftlichen Brief“ gemeldet: „Eine unglaublich herzliche Person.“ Und außerdem „eine intelligente Frau, die sich ganz allgemein für gesellschaftlichen Fortschritt interessiert“.

Unter Fortschritt lässt sich vieles verstehen. Bevor Heide Simonis 1988 in die schleswig-holsteinische Landespolitik wechselte, gehörte sie elfeinhalb Jahre lang dem Haushaltsausschuss des Bundestags an. Im Munzinger-Personenarchiv, nur selten eine Quelle für herzliches Gelächter, findet sich über diese Zeit ein erstaunlicher Satz: „Als größten Erfolg ihrer Arbeit wertete sie rückblickend die Kompatibilität der EDV-Anlagen in den einzelnen Bonner Ministerien.“ Ein subtiler Hinweis auf die begrenzten Möglichkeiten einer Abgeordneten? Subversion? Selbstironie? „Das habe ich ernst gemeint“, sagt die Sozialdemokratin.

Mit der Einführung von Computern habe seinerzeit im Bundestag ein absurder Kampf um Status und Prestige begonnen. Alles wollten alles und möglichst sofort – und am Ende standen in den Büros lauter teure Geräte, die sich nicht miteinander vernetzen ließen. Ihr sei es darum gegangen, „dieses sinnlose Haben, Haben, Haben wegzubringen“, sagt Heide Simonis und fängt an, sich für das Thema zu erwärmen: „Ich glaube, dass wir da einen qualitativen Sprung gemacht haben.“ Sehr schön. Aber ist das wirklich die Aufgabe einer Volksvertreterin? „Im Haushaltsausschuss: ja.“ Vielleicht hat sie Recht. Jedenfalls ist es derzeit bestimmt kein Nachteil, wenn eine Politikerin imstande ist, auch die Folgen des Kleingedruckten zu berechnen. Eine andere Frage ist: ob das reicht.